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Talkin’ bout Humiliation

Ein Leser schreibt: Wieso reden die Briten eigentlich dauernd von Erniedrigung? Versuch einer Antwort zwischen Eton und Empire.

Von Robert Rotifer

Ich hab ein Problem mit meinen Blogs hier. Es passiert einfach so viel bloggenswürdig Unfassbares auf dieser Insel, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, und am Ende bleibt immer ein Haufen ausufernden Geschreibsels unveröffentlicht auf meiner Festplatte liegen.

Ich brauch also dringend ein zwingendes Format zur Bündelung all des Brexit-Bullshit, und neulich ist mir glatt ein solches zugeflogen: Die Beantwortung einer Leserfrage.

Mein Leser Mischa N. schreibt mir aus dem Railjet zwischen Kärnten und Wien:

„Hast du je über der Briten Liebe zum Wort ‚humiliation‘ nachgedacht? Ist mir schon im British War Museum aufgefallen, wo von den humiliating defeats of the British troops in south-east Asia währen des Zweiten Weltkriegs die Rede ist. Und gleich darauf wieder in England in der Straße, wo irgendeine Schlagzeile einen Tory zitierte, ein Rücktritt vom Brexit wäre ‚the most humiliating blow since the Suez crisis 1956.‘ Ich kann mich jenseits der Fußballgeschichte (vor allem der österreichischen) nicht erinnern, in österreichischen/deutschen Geschichtsbüchern über ‚demütigende‘ Niederlagen gelesen zu haben. Vernichtend, bitter, schwer, aber ‚demütigend‘, ‚erniedrigend‘? Das impliziert ja, man hätte sowas (von solch einem Gegner) quasi nicht verdient... Erstaunlich.“

Danke, lieber Mischa N., der Anlass deiner mehr als berechtigten Frage ist natürlich die britische Behauptung, Theresa May sei vor zwei Wochen in Salzburg von der EU erniedrigt worden. Aber wie du richtig bemerkst, ist die Demütigung hier grundsätzlich eine omnipräsente Vokabel.

Erst heute morgen hat im Radio ein Sportberichterstatter wieder ganz selbstverständlich von der „humiliation“ Englands erzählt, als es einst das Rennen um die Austragung der Fußball-WM 2018 an Russland verlor. Ich weiß nicht mehr, was der Zusammenhang war, aber nach deinem Schreiben, Mischa, hab ich natürlich aufgehorcht, und auch in deiner Schlussfolgerung hast du recht:

Die empfundene „Erniedrigung“ setzt voraus, dass niemand mehr eine Fußball-WM verdient hätte als England, schon gar nicht die Russen. In so einer Welt ist alles außer Gewinnen automatisch ein Schlag ins Gesicht. Und in Zeiten des Brexit, wo alle Nerven blank liegen, haben solche Gefühle gerade weit über den Fußball hinaus Hochkonjunktur.

Ich dachte immer, als Wiener hätte ich mir London unbewusst deshalb als Wahlheimat ausgesucht, weil da einerseits alles anders ist, ich aber andererseits mit dem Leben in der Ex-Hauptstadt eines Ex-Weltreichs gut vertraut bin: Die melancholischen Fassaden übergroßer alter Regierungsgebäude, das frühmorgendliche Gähnen für die Paraden lang entrittener Regimenter gebauter Prachtstraßen, die lachhafte Traurigkeit der in pompösen Posen eingefrorenen Statuen von Kriegshelden, die keiner mehr kennt, und der von solchen Ansichten inspirierte Hang zur (selbstverständlich nur von innen her erlaubten) Selbstironie.

Nicht fehlen darf natürlich auch die Nostalgie, die ist – wie hie das Gesamtwerk der Kinks und da die Werke sämtlicher Wiener Songschreibenden belegen – gleichzeitig was, das sich sentimental umarmen und wovon es sich abstoßen lässt.

Doch unter all diesen Gemeinsamkeiten hab ich lange den großen Unterschied übersehen:

Wie gefährlich beleidigt Britannien immer noch ist. Die österreichische Habsburg-Nostalgie ist ähnlich selbstbetrügerisch und verklärend, aber sie beißt nicht wirklich (das bleibt der Nazi-Nostalgie überlassen, auch wenn die sich mittlerweile als Österreich-Nationalismus eingemeindet hat).

Als ich das letzte Mal in Wien war, sah ich den Slogan „Kriege gehören ins Museum“ am Heeresgeschichtlichen Museum im alten Arsenal. Wie zivilisiert (noch?), dachte ich mir. Und wie völlig undenkbar in Großbritannien, wo man so stolz darauf ist, eine Atommacht zu sein und das Fernsehpublikum johlt und jauchzt, wenn Theresa May verkündet, dass sie – im Gegensatz zur Lusche Corbyn – zu gegebener Stunde jederzeit den roten Knopf drücken würde.

Ein bezeichnendes Detail übrigens, lieber Mischa:

Das Londoner Gegenstück zum Heeresgeschichtlichen Museum heißt nicht, wie du schreibst, „British“, sondern immer noch „Imperial War Museum“. So banal es klingt, im nie weggesteckten Verlust des Empire liegt wohl der Kern des Erniedrigungs-Komplex. Nicht zufällig hörte ich einen Beamten des britischen Außenamts einmal klagen, er fühle sich in Brüssel heutzutage „wie ein Marokkaner.“ Man stelle sich vor. Ein Brite. Behandelt wie ein Marokkaner.

Im Großen und Ganzen lässt sich die ganze britische politische Geschichte seit der Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit 1947 unter diesem Aspekt betrachten: Ein weltpolitisches Zurechtstutzen nach dem anderen, unterbrochen von kleinen Momenten der nationalen Genugtuung wie der „British Invasion“ im Sixties-Pop, dem Fußball-Weltmeister-Titel 1966, dem Falkland-Krieg... und seither nimmer viel.

Daher auch die zunehmende Verbiestertheit, gerade gegenüber der EU, wo man sich als Spätankömmling seit den Siebzigerjahren immer ein- oder unterzuordnen hatte, anstatt die Briten angestammte Rolle des „top dog“ zu spielen.

Wenn ich ein Pfund für jedes Mal hätte, wo mir von den hiesigen Medien erzählt wird, Britannien sei in irgendwas „world leader“ oder „the best in the world“, ich könnte mir alle zwei Tage ein britisches Bier in einem britischen Pub leisten.

Mein Lieblingszitat diesbezüglich ist von Landwirtschaftsminister Michael Gove, der 2017 im Unterhaus erklärte: „Außerhalb der Europäischen Union werden wir die Möglichkeit haben, britisches Essen effektiver als britisch zu kennzeichnen. Ich denke, die Leute auf allen Seiten des Hauses verstehen, dass bei Essen und Trinken die Herkunft eine Rolle spielt – und Britisch ist immer am Besten.“

Wer in seiner Selbsteinschätzung derart brutal daneben liegt, muss sich bei jedem Eindringen der Realität in seinen isolierten Wahrnehmungsbereich zwangsläufig erniedrigt fühlen (Ich sollte übrigens hinzufügen, dass jenseits des offiziellen Diskurses in der alltäglichen Konversation das Gegenteil dieser Großmannssucht, nämlich der fatalistische Hang zum Herunterreden alles Britischen, fast ebenso weit verbreitet ist – und genauso sehr daneben liegt bzw. nur als „self-deprecation“, sprich als Zeichen der Höflichkeit gegenüber dem/der ausländischen Gesprächspartner_in verstanden und von jener/jenem keinesfalls enthusiastisch bestätigt werden sollte!).

Boris Johnson

APA/AFP/Leon Neal

Natürlich hat diese Obsession mit der eigenen Erniedrigung auch eine Freudsche, sexuelle Dimension. So sprach etwa Boris Johnson neulich in seiner Rede beim konservativen Parteitag von Theresa Mays Plan für die künftigen Handelsbeziehungen zur EU als „intellektuelle und moralische Erniedrigung“ und evozierte dazu das sadomasochistische Bild eines mit Handeisen an Brüssel gefesselten Britannien. Seine Aufgabe, erklärte er, liege darin, „etwas Blei in den kollektiven Bleistift zu stecken."

Wenn einem das „lead“ in den „pencil“ schießt, dann heißt das in Großbritannien ausschließlich eines.

Dass Sexualität und Erniedrigung in diesem Sprachgebrauch so nahe zusammenliegen, lässt sich wiederum schlüssig mit der Schulung der politischen und journalistischen Elite Britanniens in den „besten“ Internaten des Landes begründen. Wer wie Johnson in den Schlafräumen von Eton seine pubertären Nächte verbracht hat, war dort mit der Hierarchie des sogenannten “Fagging System“ konfrontiert. Die institutionalisierte Erniedrigung durch die älteren Jahrgänge ist seit Jahrhunderten schon die erste sexuelle Erfahrung der Eleven von Eton. Generationen von Abgängern solcher Schulen wurden so systematisch traumatisiert (siehe etwa diesen Ausschnitt aus James Bieris Shelley-Biographie), und sie beendeten ihre Schulkarrieren jeweils in der Position der Täter.

Da, zwischen sexuellem Missbrauch und körperlicher Züchtigung, würde ich letztlich also den psychologischen Ursprung all der inflationären „humiliation“ in der britischen Alltags-Sprache orten. Ich hoffe, die Erklärung hat geholfen.

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