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"Roma" Filmstill

Netflix

Stille Sensationen

Neues von der Viennale: Vom überfüllten Gartenbau-Foyer, dem Alleinsein unter Anderen, der neuen Langsamkeit. Plus Festivalbeiträge von Olivier Assayas, Alfonso Cuarón und Claire Denis.

Von Christian Fuchs

Eine Stampede, sagt das Internet, „bezeichnet ursprünglich eine unvermittelte Fluchtbewegung innerhalb einer Tierherde, die die gesamte Herde erfasst und diese unkontrollierbar macht.“ Das erste Mal musste ich an diesen Begriff, der später auch auf die Dynamik von Menschenmassen übertragen wurde, bei einer Viennale Ende der 90er denken. Damals wurde das berüchtigte „Blair Witch Projekt“ im Gartenbau-Kino uraufgeführt.

Im restlos überfüllten Foyer spielten sich vorab wilde Szenen ab. Als die Türen zum Saal endlich geöffnet wurden, preschte die Menge durch den Raum und riss dabei auch beim Eingang postierte Dekopflanzen um. Der Schreiber dieser Zeilen wurde gnadenlos vom Menschenstrom mitgespült und schwor sich, ähnliche Ansammlungen drängelnder Cinasten in Zukunft zu vermeiden.

Aus diesem Vorsatz ist natürlich nichts geworden. Denn das ausverkaufte Gartenbau-Kino gehört zu den zentralen Orten der Viennale. Und so stehe ich Jahr für Jahr wieder, mit gefühlten tausend anderen Zusehern, eingequetscht im Foyer. Stelle mich dem Stress der Last-Minute-Karten, tauche ein in das überlaute Stimmengewirr. Heuer noch dazu in geballter Weise, weil die Filme, die ich 2018 aus dem Programm gesucht habe, fast alle in dem grundsätzlich natürlich traumhaften Kino gezeigt werden.

Viennale 18 Eröffnung Menschen vor dem Gartenbaukino

APA/ GEORG HOCHMUTH

Kleine Alltagsszenen als spektakuläre Kinomomente

Dass es dann, wie am vergangenen Samstag, bei einem bewusst unspektakulären Film wie „Double Vie“ im Gartenbau zu Szenen wie bei einer Marvel-Premiere kommt, ist normaler Viennale-Alltag. Natürlich zieht schon allein der Name des Regisseurs Olivier Assayas, der mit seinen vergangenen Werken „The Clouds of Sils Maria“ und „Personal Shopper“ auf vielfache Weise faszinierte. Als sich sein neuer Streifen aber als weitaus konventioneller entpuppt, etwas schwatzhaft anmutet und gänzlich französelnden Klischees verschrieben scheint(Affairen, Rotwein, Hochkultur) tut das der euphorischen Stimmung im Saal keinen Abbruch.

Am Tag danach nutze ich mehrere höchst interessant klingende Viennale-Beiträge für einen richtigen Gartenbau-Marathon. Beim ersten Film ist die Hysterie, die das brachial volle Kinofoyer beherrscht, nicht ganz ungerechtfertigt. Hat doch Alfonso Cuarón mit seiner Familiensaga „Roma“ nicht nur den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig erhalten.

Das schwarzweiße Epos wurde auch von Netflix produziert, was neben maximaler künstlerischer Freiheit bedeutet: Dieser Film ist für die Streaming-Crowd, nicht für altmodische Lichtspieltheater gemacht. Die Viennalevorstellungen bieten also eine extrem rare Gelegenheit, Cuaróns neueste Arbeit im Kinoambiente zu genießen. Eine Aussicht, die mehr als traurig ist. Denn kaum ein Film schreit 2018 so sehr nach gigantischer Leinwand wie „Roma“, diese Geschichte einer jungen Hausangestellten im Mexiko der 70er Jahre.

Filmstill aus Roma

Netflix

„Roma“

Sex, Tod und die neue Langsamkeit

Dabei sind meine Erwartungen zunächst ambivalent. Nach einführenden Worten der supersympathischen Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi folgt aber eine echte Sensation. „Roma“, der sich im Vorfeld nach einem stillen Sozialdrama anhörte, bei dem der „Gravity“-Oscargewinner seine visuelle Virtuosität zügelt, raubt einem mit manchen Bildern den Atem. Alfonso Cuarón, neben der Regie auch für Drehbuch und Kamera verantwortlich, reiht intimste Augenblicke und wahnwitzige Massenszenen aneinander, lässt kleine Alltagsszenen zu spektakulären Kinomomenten mutieren, verknüpft Persönliches und Politisches auf magische Weise. Weil „Roma“ sich für seine präzisen Menschenbeobachtungen aber auch alle Zeit der Welt nimmt, kann er im rasanten Streaming-Mahlstrom demnächst wohl nur verlieren.

Nur nicht hudeln, dass ist überhaupt eine Maxime vieler zeitgenössischer AutorenfilmerInnen. Die Pariserin Claire Denis kreiert aus der Verlangsamung seit Dekaden eine Kunstform. „High Life“, ihr Flirt mit dem Science-Fiction-Kino, macht da keine Ausnahme. In einem Tempo, das an die elegische (Anti-)Utopien von Andrei Tarkowski erinnert, erzählt uns Denis die Geschichte einer tragischen Weltraum-Mission.

"High Life" Pattinson Filmstill

Polyfilm

„High Life“

Arthouse-Darling Robert Pattinson, bei dem sich nur mehr Hardcore-Fans an seine frühere Mainstream-Karriere als Teenstar erinnern, spielt einen wortkargen Astronauten, der einem schwarzen Loch entgegensteuert. Was aus dem Rest der Crew geworden ist und warum der junge Mann ein Baby an Bord hat, erfahren wir in bruchstückhaften Rückblenden. Die Art und Weise, wie Claire Denis mit Genre-Stereotypen umgeht, wirkt dabei manchmal etwas tollpatschig, das muss man bei aller Ehrfurcht vor der Radikal-Regisseurin sagen. Aber das war auch schon bei „Trouble Every Day“ so, ihrem Abstecher ins Vampirkino anno 2001.

Dafür wird man im Gegenzug in beiden Filmen von Denis reichhaltig mit Dingen belohnt, die man im Gegenwarts-Genrekino selten findet: Kühle poetische Schönheit, verstörende Ausbrüche von Sex und Gewalt, verführerische Melancholie. Alleine die Szene, in der die tolle Juliette Binoche als Astro-Ärztin alleine in der „Fuckbox“ verschwindet, um entfesselt (und ungesehen) zu masturbieren, hätte es früher nur bei David Cronenberg gegeben. Auch und erst recht da draußen in der schwarzen Leere des Alls, folgert Claire Denis in „High Life“, sind wir Erdenkinder großteils unseren Instinkten und Trieben ausgeliefert.

"High Life" Filmstill

Polyfilm

„High Life“

Eine diffuse Fiktion von Gemeinsamkeit

Bei aller diametralen Unterschiedlichkeit sind „Roma“ und „High Life“ auch zwei Versuche über die existentielle Einsamkeit. Und dem Versuch, sie mit Umarmungen, Berührungen, zartem oder heftigen Körperkontakt zumindest kurzfristig zu überwinden.

Die eher unerwünschten Kollisionen physischer Natur dagegen sind spätnachts im Gartenbau-Kino dann vorbei. Aufatmen ist möglich. Während ich im nur mehr halbvollen Foyer auf einen weiteren Streifen warte, muss ich wieder einmal an einen altbekannten Widerspruch denken. Eingefleischte Cinephile sind einerseits nicht selten Frauen oder Männer mit sanft soziophoben Zügen, mehr in filmischen Wirklichkeiten verankert als in der harschen Realität endloser Kassenschlangen. Auf der anderen Seite empfinden sie eine volle Viennale-Vorstellung in einem Riesensaal ungleich beglückender als zuhause auf den Laptop-Monitor zu starren.

Roma Filmstill

Netflix

„Roma“

Es ist das Alleinsein unter Anderen, im öffentlichen Raum, das zur essentiellen Kinoerfahrung gehört. Im Dunkel der Vorführung sind wir ganz auf uns zurückgeworfen, verschmelzen aber im Idealfall sowohl mit den Figuren auf der Leinwand als auch - ein klein wenig - mit den anonymen Mitzusehern rundum. Plötzlich sind alle, die dich eventuell draußen im Foyer noch anrempelnd genervt haben, deine Mitverschworenen. Eine Art Lichtspiel-Ritus, eine diffuse Fiktion von Gemeinsamkeit entfaltet sich, mal mehr, mal weniger. Und hoffentlich noch oft in den nächsten Viennale-Tagen.

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