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"Die Überwindung der Schwerkraft" Cover Heinz Helle

Suhrkamp

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Melancholia

Zwei Brüder ziehen eine Nacht lang durch Münchner Bars. Was nach leichter Beisl-Literatur klingt, entpuppt sich schnell als melancholische und kratzige Geschichte der etwas seltsamen Beziehung zweier Geschwister und als große nachdenkliche Abhandlung über den Zustand der Welt.

Von Daniel Grabner

Man kennt das. Wenn es am Heimweg, nach einer durchgemachten Partynacht langsam hell wird und im Kopf noch all die Gespräche, die man in den letzten Stunden geführt hat, nachhallen. Gute Gespräche, emotionale Gespräche, Blödsinn, Spaß. Manchmal hat man in so einem Moment das Gefühl, mehr erlebt zu haben als in der ganze Woche davor. Eine Welt, die sich da aufgetan hat für ein paar Stunden.

Genau so eine Nacht verbringt der namenlose Ich-Erzähler in Heinz Helles Roman mit seinem älteren Bruder. Das Verhältnis der beiden zueinander ist nicht einfach. Es ist eine dieser klassischen älterer-jüngerer Bruder-Issues, die die beiden haben. Obwohl beide Erwachsen sind, fühlt sich der jüngere immer noch als der kleine Bruder, der zum älteren aufsieht, sich schwertut, ihm zu widersprechen. In der Geschichte von Heinz Helle ist der 12 Jahre ältere Bruder noch dazu ein egozentrischer Intellektueller, impulsiv, schwer zugänglich und Alkoholiker, dem sich der jüngere nur schwer entziehen kann.

Vernunft gegen den Weltschmerz

Es ist das letzte Mal, dass sich die beiden sehen. Wenige Monate später ist der ältere Bruder tot. „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist eine Erinnerung an diese Nacht und an die Gespräche, die die beiden geführt haben, aus der Perspektive des jüngeren Bruders. Und das ist kein bierseliges Gelalle von zwei Besoffenen.

Heinz Helle

Max Zerrahn

Heinz Helle

Es sind meist philosophische Monologe des irgendwie gebrochenen, älteren Bruders, der an sich und der Welt verzweifelt. Und der versucht, aus der zwanghaften und deprimierenden Analyse historischer Ereignisse, wie 9/11, dem Irakkrieg, dem Holocaust oder grauenhafter Kriminalfälle, wie dem des französischen Sexualstraftäters Marc Dutroux, Erklärungsmodelle für den Zustand der Welt abzuleiten. Gewaltige Reden in langen Sätzen, in denen in kurzer Zeit die unterschiedlichen Themengebiete angeschnitten und miteinander verknüpft werden: die Verfeindung der politischen Lager, das Erstarken von Nationalismus, Kapitalismus, Migration, Umweltschutz.

Der ältere Bruder ist von einem Weltschmerz geplagt, den er panisch versucht intellektuell aufzulösen. Diese Monologe machen den Roman durchaus schwer und warten vor allem mit diversen deprimierenden Stellen auf, etwa wenn schlaglichtartig sexualisierte Gewalt beleuchtet wird. Aber Heinz Helle webt auch das Schöne der Welt ein. Auf alltägliche Dinge blickt er sehr genau in seiner Beschreibung, aus der eine nüchterne Poesie und ein Pathos des Faktischen entstehen. Etwa in den Überlegungen zur Straßenverkehrsordnung.

„Es ist möglich ein Asphaltband zu zerteilen in zwei verfeindete Welten, inkommensurabel und für immer getrennt durch einen einzelnen Strich, an dem ein einzelnes Wort hängt, Gegenverkehr, und an dem Wort hängt ein Gesetz zum Schutz aller angehörigen dieser Spezies, derer, die Striche auf Straßen malen, und derer, die die Gesetze machen, und sie alle sagen, hier soll niemand sterben, auf diesem Stück Teer hier vor meinem Fenster, und auch nirgendwo sonst, seid bitte vorsichtig, passt auf euch auf [...].“

Es geht um nicht weniger als um alles

"Die Überwindung der Schwerkraft" Cover Heinz Helle

Suhrkamp

„Die Überwindung der Schwerkraft“ von Heinz Helle ist bei Suhrkamp erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.

Heinz Helles Roman ist eine Geschichte über das in-Beziehung-treten zu uns, zueinander und zur Welt, und über die Qualität dieser Beziehungen. Man könnte sagen, es geht um nicht weniger als um alles. Wie verorten wir uns in der Welt? Wie interpretieren globale oder persönliche Ereignisse? Wie können wir glücklich werden? Aber er erzählt auch die Geschichte der Aufarbeitung eines Verlusts, des Forschens nach den Spuren, die ein geliebter Mensch in einem selbst hinterlassen hat.

Hat man die letzten Zeilen zu Ende gelesen und das Buch zugeklappt, ist man nicht unbedingt erleichtert, oder versöhnt, oder gut drauf. Man ist auf seltsame Weise berührt, hat das Gefühl für ein paar Stunden Teil genommen zu haben am diffusen Rauschen der Welt, ihren Diskursen, ihrer Geschichte, an der fundamentalen Fragen, was das alles soll und was wir darin sollen oder wollen. Fragen, die uns eigentlich oft nach großen Ereignissen treffen, dem Tod eines geliebten Menschen, in der Liebe, oder in globalen Ereignissen, die unser Selbstverständnis als Gesellschaft anrühren. Die Melancholie in Heinz Helles Roman ist aber keine leere Pose, kein erstarrt-Sein in der bloßen Haltung des Grübelns. Es ist ein ehrlicher Versuch, sich all das irgendwie zu beantworten.

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