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Vier Reiter im Sonnenuntergang

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Das Glück der Erde auf dem Rücken der Pixelpferde

Nicht nur die Natur droht einen in „Red Dead Redemption 2“ mitunter zu erschlagen. Die Action im cineastisch aufbereiteten Western-Epos wächst mit fortschreitender Story und lebt vom Spielen um des Spielens willen. Man kann sich verlaufen, aber nie verirren.

Von Sarah Kriesche

Wenn - von vielen - langersehnte Titel wie „Red Dead Redemption 2“ rauskommen, sind sie im Vorfeld zumeist von Appetithäppchen zu den Inhalten begleitet. Immerhin ist es ja auch nicht wenig Geld, das man für ein Spiel ausgibt. Ein Amuse-Gueule, bevor es an den spielerischen Hauptgang geht, ist eine etablierte Selbstverständlichkeit. Bei „Red Dead Redemption 2“ hatten sich bei mir im Vorfeld drei „Teaser“ eingebrannt, die zusammengefasst meinten, es sei ein wenig öde.

  • Man werde auftragslos durch eine Landschaft reiten und… nun, man werde auftragslos durch die Gegend reiten.
  • Das Transportmittel, also passend zum Wild-West-Titel ein Pferd, werde besser und schneller, je intensiver man sich um das Pixeltier kümmere.
  • Bis man das Spiel auf der Konsole habe, vergehe eine recht lange Download-Zeit.
Trackers Hotel

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Öde? Von wegen!

Bis auf die Downloadzeit unterstellte ich Rockstar, dass dort eine Entwicklerin sitzt, die mich kennt und so schätzt, dass sie einen für mich maßgeschneiderten Titel produzieren wollte. Was für manche wohl als Downside wahrgenommen wurde, zählte für mich auf jeden Fall zum besten Grund, das Spiel lieben zu müssen! Wildnis, kein Auftrag der den nächsten jagt sowie eine vermeintlich tiefergehende Spieldynamik, in der jenes Element, das die Eroberung des Westens erst möglich gemacht hatte, also das Pferd, entsprechende Würdigung fände. Ich zäumte also die PS4 auf und war bereit herauszufinden, die Sequel zu „Red Dead Redemption“ (in der man ja fieserweise dann sein Pixel-Leben lässt) zu erforschen.

Clash of gaming cultures

Auf zum Spiel. Meinen Masterplan inkludiert, die Download-Zeit perfekt zu nützen, indem ich „Assassin’s Creed Odyssee“ anspiele. Ich lerne: Die Download-Zeit von „Red Dead“ hat es wirklich in sich. Don’t blame the game though, mein ISP trägt sicher auch seinen Teil dazu bei. Das Gut Ding braucht dermaßen viel Weile, dass ich als Kassandra bereits herausgefunden habe, dass ich von einem Spartaner-Obertypen adoptiert bin, eine Sekte auffliegen lasse und mit dem Adler als Kumpel Spartanern und Griechen das Leben erschwere. Bevor die Redundanz („Du hast 4 von 10 - gefühlten 1.000 - Banditencamps dem Erdboden gleichgemacht“) überhandnehmen kann, ist der Download beendet und ich tauche ein in den absoluten Spielkultur-Schock.

Reiter im Schnee

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In einer cineastisch-bombastischen Filmsequenz reite ich mit einer Gang durch einen Schneesturm. Wie zu erwarten bekomme ich im Laufe dieser Sequenz die Kontrolle über meinen Charakter und … reite mit einer Gang durch den Schneesturm. Im Nachhall meiner Spielerfahrung von „Asassin’s Creed“ versuche ich den Prozess zu beschleunigen und drücke sämtliche Tasten in so ziemlich allen Kombinationen, die es gibt. Irgendwo werde ich ja schon schießen können, mein Pferd könnte ja auch einfach schneller laufen, wo kann ich diese Sequenz überspringen? Erfolglos. Ich wanke hinter meiner Crew elendiglich langsam durch den Schneesturm und „Red Dead Redemption 2“ erteilt mir die wichtigste Lektion, die sich durch das Spiel ziehen wird: Lass dir Zeit und hör auf, so gestresst zu sein.

Let it snow

In den meisten Spielen, die ich hinter mir habe, sind die Charaktere etwas schneller als ein normaler Mensch, etwas robuster, sie können etwas höher springen und das Spielerlebnis wirkt dadurch dynamischer. Wie ein Lied aus den 80ern, das man ein wenig schneller abspielt. Dazu kommt, dass besonders open world games missionsgetrieben sind. Man hat die Hauptstory, redet nebenher jeden an, um seine Side-Missionen zu bekommen und zu leveln, um sich neue Ausrüstung kaufen zu können, und dann, wenn man endlich alles zusammengetragen hat, ist das Spiel auch schon zu Ende. Dass ich in dieser erlernten Dynamik wie ein Pawlowscher Hund funktioniert habe, führt mir RDR2 vor Augen. Ich reite noch immer durch den Schneesturm und spiele nicht, sondern werde gespielt. Die Knalleffekte bleiben nämlich aus, kein Überfall, keine Action, stattdessen eine umwerfende Landschaft und ein Detailreichtum, den ich mehr vermisst habe, als mir bis dato bewusst war. Mein Pferd stolpert leicht im Schnee. Seine Ohren bewegen sich aufmerksam in alle Richtungen, während wir eine eigene Schneespur legen, einfach nur, weil nichts so viel Spaß macht, wie im frischen Schnee eine Spur zu hinterlassen.

Ein Mann fängt einen Fisch

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Die Langsamkeit des Seins

Falls es dieses Spezies gibt, zähle ich zu „schlampigen Spielern“. Ich hab eine Mission und versuche sie effizient zu erledigen, Optik und Eleganz sind sekundär. Sprich, ich bin die, die Missionspunkte - seien es Menschen, Tiere oder Gegenstände - über den Haufen rennt, weil Abbremsen keinen Unterschied darstellt. Wenn ich rechtzeitig eine entsprechende Taste drücke, startet die Missionssequenz ohnehin und ich kann weiter machen. Außerdem sammle ich gerne alle Nebenquests ein, um sie dann, je nach Level abzuarbeiten, um das dann, bereits hochgelevelt, gemütlich hinter mich zu bringen. Ja, ich bin die, die Missionen gerne macht, wenn sie schon 3 Level drüber ist, um nicht ewig an Strategien tüfteln zu müssen.

Vermummter Mann schießt von Zug aus

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Mit dieser Einstellung habe ich es bei RDR2 geschafft, dass auf mich ein Kopfgeld von $480 gesetzt worden ist, bevor das „Tutorial“ (das Tutorial ist eine Option, sprich, Missionen, die man zu Anfang machen kann, muss man aber deshalb noch lange nicht machen. Es gibt weder Reihenfolge noch Level-Stats noch „Mach das, dann kannst du…“-Anleitungen) auch nur ansatzweise vorbei war. In eine Stadt zu galoppieren und eine Kutsche zu rammen bedeutet also nicht, dass der Kutscher flucht, sondern mitunter auch, dass er versucht einen zu hauen, es dem Sheriff petzt oder Schlimmeres. Ich wurde also relativ oft beschimpft, angegriffen, angeschossen und, was soll ich sagen, es war Notwehr! Und ein harter Weg zu lernen, dass die Funktion „Gehen“ zum ersten Mal seit Langem in einem Spiel wieder Sinn ergibt, weil sie viel Stress erspart. Das Kopfgeld zieht nämlich eine - besonders am Anfang - fast unüberwindbare Schar an Bounty-Hunters nach sich. Erst, wenn man sie abbezahlt hat, bekommt man auch den digitalen Seelenfrieden. Dieses „learning by doing“ spart man sich natürlich, wenn man sich an die Missionen im Basislager hält. ¯\_(ツ)_/¯

Zug im Hintergrund, Alligator im Vordergrund

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Das Glück der Pixelpferde

Mit der Bevormundung von wegen „Mach zuerst das, dann das, dann kannst du und dann darfst du, und dann wird dir so die Welt freigeschaltet, und du bist jetzt Level so und so, und dieser Gegner ist zu stark“ hat die Wild-West-Story nämlich nichts am Cowboy-Hut. Ich wollte also vor allem anderen rausfinden, was es nun mit diesem Bonding mit den Pferden auf sich hat.

Ohne zu viel zu spoilern, ist dieser Aspekt recht trivial. Pferd tätscheln, Pferd bürsten, Pferd füttern, wenn man oft genug die entsprechenden Tasten drückt, levelt die Beziehung und das Pferd ist dann schneller und leistungsfähiger und kann als Bonus z.B. die „Piaffe“. Allerdings, auch hier schlägt ein Detailreichtum zu, der Spielerinnen und Spielern, die mit Pferden wenig am Hut haben, nicht so zusagen wird, wie mir. Die Basis-Leistungsfähigkeit ist nämlich nicht bloß eine statistische Beschreibung (die man natürlich auch abrufen kann), sie ist auch an die Rasse gebunden. Morgan, Tennessee Walking Horse, Suffolk Punch, Appalosa, Andalusier, Missouri Fox Trotter und ja, natürlich auch Araber, sind nur einige der Rassen, die mit entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet sind. Und ich war die, auf die wegen Pferdediebstahl, Streicheln, um ihr Vertrauen zu gewinnen, Satteltaschen Ausrauben und Ich-wollte-doch-nur-Schauen dann bereits $800 Bounty ausgesetzt war, bevor das Tutorial auch nur ansatzweise vorbei war.

Generell kann man alle Tiere „studieren“ und sammeln. Hunde im Spiel freuen sich zum Beispiel, wenn man sie begrüßt und streichelt, auch wenn das keine weiterführende Loyalität nach sich zieht (für euch mit einem Flat Coated Retriever getestet).

Shoot first, ask questions later

Es ergäbe für mich keinen Sinn, hier viel von der Hauptstory zu spoilern, auf den Websites des Vertrauens kann man sie, wie auch Walkthroughs ohnehin nachlesen, für mich stellt das Spiel ohnehin in sich selbst eine einzige Hauptstory dar. Gut, ich hätte meinem „Ich“ von vor einer Woche geraten, doch bitte einfach mit den offensichtlichen Aufgaben zu beginnen, um gewisse Basis-Fähigkeiten und dos und don’ts zu verinnerlichen. Das hätte mir viel Ärger erspart, weil ich so wüsste, dass dieselbe Taste, mit der man Waffen belegt, auch für Dialoge zuständig ist.

Eine Frau und ein Mann während einer Schießerei

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Hat man eine Waffe ausgewählt, gilt das Wild-West-Prinzip „shoot first, ask questions later“ und ich habe somit einige Missionen in spe vorzeitig beendet und, ja, diese Sache mit mir und dem Kopfgeld auf ein neues all-time high getrieben. Zwischen den ersten Telegrafenmasten, einer umwerfenden Landschaft und der wachsenden Erkenntnis, dass es nicht darum geht, sich Zeit nehmen zu müssen, sondern sich Zeit nehmen zu dürfen, steigt die Dynamik mit laufendem Spielfortschritt.

Wie bei diesem einen Musiktitel, über den wohl jede mal gestolpert ist, den man hört und sich denkt „naja“ und je öfter man ihn hört, desto lieber hat man ihn, bis man am Ende gar nicht weiß, wie man diesen Song jemals *nicht* lieben konnte, ist auch „Red Dead Redemption 2“ ein „grower“. Kein Spiel für nebenbei, sondern - zumindest für mich - ein Titel, der, fast ein wenig abseits der Gaming-Junk-Food-Industrie, Spielerinnen und Spielern zutraut, Erfahrungen selbst machen zu können, ohne sie in bevormundender Art auf alles hinzuweisen oder komplett alleine zu lassen. Ein Spiel, das die Sehnsucht nach Eskapismus befeuert, ohne den romantischen Mythos des Wilden Westens zu strapazieren. Wie schon im Vorgänger-Titel zieht sich auch bei „Red Dead Redemption 2“ eine Art melancholische Hoffnungslosigkeit als roter Faden durch das Spiel, in dem man auch mit den besten Absichten schneller zum Colt greift und zum Outlaw wird, als man mitunter in den Dialog gehen kann.

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