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Ambrosio flippert gegen das System

Wenn Flippern Widerstand bedeutet, dann ist ein Regime dem Untergang nahe: Der Autor Tijan Sila schreibt mit seinem zweiten Roman „Die Fahne der Wünsche“ gegen den Heldenmythos an.

Von Maria Motter

Buchcover, bunte Druckgrafik, mit Kopf und  Taube

Kiepenheuer & Witsch

Es ist das Zeitalter der Antihelden und Ambrosio ist ein Paradebeispiel von ihnen. Der Autor Tijan Sila hat die Hauptfigur seines zweiten Romans „Die Fahne der Wünsche“ mit dem Labelnamen eines italienischen Fahrradfelgenherstellers ausgestattet und für ihn ein ganzes Reich entworfen. Und was für eines: Crocutanien ist ein fiktiver totalitärer Staat, am Rande Europas und am Meer gelegen und technologisch in den 1980er Jahren steckengeblieben. Plattenbauten und Parteiuniformen mit Emblemen wirken seltsam vertraut.

Doch Tijan Sila liefert weder Sowjet-Kitsch noch trauert er dem jugoslawischen Kommunismus hinterher. „Die Fahne der Wünsche“ ist die fiktive Autobiografie des fiktiven Radrennprofis Ambrosio, der für seine Unbeugsamkeit gefeiert werden wird. Die wenigsten wissen: Dabei hat er nur Flipper gespielt. Und Flipperautomaten wurden im fiktiven System des Spiroismus als „besonders schädliche Ablenkung“ verboten - wie eine Reihe anderer Aktivitäten, die für junge Menschen höchst begehrenswert sind. Ein eigenes Zimmer. Ausländische Comics. Sex - der soll im Spiroismus nur zur Fortpflanzung praktiziert werden. Vergnügungen sind abgeschafft und mit ihnen alle Lüste, theoretisch. Ambrosio ist 16, als er im Radrennsport aufsteigt und seine Freundin ist Betty, ein Dreieck von Mädchen, das ihn bei Umarmungen fast erdrückt, und Schwimmerin.

„Die Fahne der Wünsche, ein rotes Tuch“ - der Titel klingt anmutig poetisch. Tatsächlich jedoch sind die Worte ein Zitat des Kulturtheoretikers Klaus Theweleit, der in seinem zweibändigen und 1977 erschienenen Werk „Männerphantasien“ einen faschistoiden Männlichkeitstyp und Gewaltphantasien analysierte. „Männerphantasien“ war Theweleits literaturwissenschaftliche Dissertation und wurde begeistert diskutiert.

Es sind die jugendlichen Charaktere, auf die sich Tijan Sila mit seinem zweiten Roman jetzt geradezu abonniert und die er wunderbar beherrscht. Bereits in seinem Debüt „Teilchen Unlimited“ hat der gebürtige Sarajevoer entzückend, berührend und sehr komisch von einem Jugendlichen erzählt, der auf einem Rennrad vor Neo-Nazis floh. Rennrad und jugendliche Charaktere hat er nun in „Die Fahne der Wünsche“ importiert. Über weite Strecken ist Ambrosio ein junger Kopf, dem eine nahestehende Person nach der anderen abhanden kommt. „Toter Vater, irre Mutter“, so fasst er seine prekäre familiäre Situation kurz. Erst „seift“ sich der Trainer ins Ausland ab, dann Betty. Für die Verlassenen hinterlassen sie stets ein Stück Seife.

Die jugendliche Erzählperspektive erlaubt der Geschichte auch deren Naivität und Leerstellen.

Wir empfanden das Leben zwar als zermürbend, fühlten uns dadurch aber sehr männlich - in der Schule hingen auch Plakate, auf denen die spiroistische Partei an Hungersnöte und Todesmärsche erinnerte.

Buchcover mit bunter Grafik

Miriam Stanke

Tijan Sila

Ein-Parteien-Regime und staatliche Willkür treffen auf Jugendliche und deren Wunsch nach Freiheit. Eine Opposition ist nicht auszumachen, das Regime geht rigoros gegen Jugendbewegungen vor. Ambrosios Alltag ist ein unfreiwilliges Abenteuer zwischen Willkür und Durchwurschteln. Der Leistungssport öffnet ein Fenster zur Welt, die sich allerdings für Crocutanien nicht interessiert. Der Spitzensportler selbst wird zur Flipperkugel im System. Wo Tijan Sila in seinem Erstling „Teilchen Unlimited“ mit bittersüßen Passagen punkten konnte, tritt die Erzählung diesmal mittendrin auf der Stelle. Die Banalität dieser Fiktion wirkt auf lange Strecke ermüdend. Gut möglich, dass das Absicht ist. Denn Tijan Sila arbeitet geschickt gegen einen Heldenmythos an. Und viel mehr hat er sich diesmal auch nicht vorgenommen.

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