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Screenshot: Online-Karte: Demonstrationen am Rathausplatz

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Demokratie braucht Raum

Was können uns Straßen und Plätze in Wien über Demokratie erzählen? Einiges, meint das interdisziplinäre Team vom Projekt „Was haben diese Plätze schon gesehen?“. Jene Orte, an denen in den letzten 100 Jahren demonstriert wurde, sind jetzt in einem interaktiven Stadtplan verzeichnet, und das ermöglicht ein Klicken durch Jahrzehnte an Demonstrationskultur in der österreichischen Hauptstadt.

Von Veronika Weidinger

Diese Online-Karte ist das Herzstück des Projekts „Was haben diese Plätze schon gesehen?“ und auf Facebook zeigt ein nahezu täglich aktualisierter Kalender, welche Demos in Wien in den letzten 100 Jahren, seit der Gründung der Republik 1918, stattgefunden haben. Als Quelle dienen die Ausgaben der Wiener Zeitung.

„Was Menschen unter Demokratie verstehen, das äußern sie auch auf der Straße, in Demonstrationen“, meint Benjamin Grilj im Gespräch bei FM4. Der Historiker hat gemeinsam mit den ArchitektInnen Madlyn Miesgang und Michael Rieper u.a. das Projekt „Was haben diese Plätze schon gesehen?“ initiiert. Das Projekt ermögliche einen anderen Blick auf die österreichische Geschichte, als es die Geschichtswissenschaft normalerweise unternehme, weil in Demonstrationen nicht nur politische Forderungen gestellt worden seien, sondern alle Fragen des öffentlichen Lebens öffentlich diskutiert und zur Schau gestellt worden seien. Das gehe über die klassische Betrachtungsweise politischer Situationen hinaus.

Screenshot: Online-Karte

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Wien-Karte „Was haben diese Plätze schon gesehen?“

Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich scheint, wurde auf der Straße eingefordert, welche Beispiele gibt es da aus den letzten 100 Jahren?

Benjamin Grilj: „Besonders deutlich sieht man es bei sämtlichen Rechten und Pflichten, die die Familien und vor allem die Frauen betreffen, dass es nicht selbstverständlich war, zum Beispiel, das Verbot von Vergewaltigung innerhalb der Ehe oder auch die Fristenlösung oder auch die Kinderbetreuung. Das ist bereits in der Zweiten Republik besonders massiv auf der Straße gefordert worden und erst relativ spät politisch umgesetzt worden. Man sieht aber auch andere Kontinuitäten zu heute – wenn man jetzt an die Demonstrationen rund um den 8-Stunden-Tag denkt, der 1918 eingeführt worden ist - allerdings nur für die Arbeiter und nicht für die Angestellten. Die Angestellten haben das relativ lang auf der Straße gefordert, bis es auch für sie eingeführt worden ist – und jetzt haben wir die Demonstrationen wieder. Auch da sieht man gewisse Kontinuitäten, die innerhalb der politischen Diskussion schon 100 Jahre durchgängig da waren.“

Hat sich die Bedeutung der Straße als Ort der politischen Artikulation verändert?

Benjamin Grilj: "Grundsätzlich haben wir ganz andere Formen von Demonstrationen in den unterschiedlichen Epochen der österreichischen Geschichte. Wenn man sich z.B. die Erste Republik anschaut, sind Demonstrationen wesentlich basisdemokratischer, es ist nicht darum gegangen, dass man schon im Vorfeld genau gewusst hat, wofür oder wogegen man demonstriert, sondern man hat sich bei der Demonstration darauf geeinigt. Auch die Routen waren damals vom Thema der Demonstration abhängig. So hat man sich getroffen und dann zum Beispiel beschlossen, wir sind jetzt für eine andere Sozialgesetzgebung, und ist dann entsprechend zum Sozialministerium gegangen, weil man die Petition, die man im Zuge der Demonstration erstellt hat, persönlich übergeben wollte.

In der faschistischen und nationalsozialistischen Periode war es hingegen keine Demonstration im klassischen Sinn, sondern da waren es Machtdemonstrationen, extrem militarisiert vom Auftreten her, von der Struktur der Demonstration. Man ist in Kolonnen gegangen, die eher an Aufmärsche von Soldaten erinnern, als als Ausdruck einer Zivilgesellschaft verstanden werden können, die es in diesem Zeitraum auch nicht gegeben hat.

Vom Anfang der Zweiten Republik bis Hainburg sind die Demonstrationen vor allem von den Großparteien organisiert und laufen viel gesitteter ab als in der Ersten Republik. Es gibt viel weniger gewalttägige Ausschreitungen als in der Ersten Republik. Mit Hainburg ändert sich da unseres Erachtens relativ viel in der politischen Diskussion in Österreich. Die einzelnen beteiligten Demonstranten rücken viel weiter in den Vordergrund, sie sind diejenigen, die sich treffen, es sind auch viel mehr kleinere Organisationen, die auf einmal Demonstrationen veranstalten. Das wirkt sich dann auch aus in der Gestaltung von Plakaten, in der Gestaltung von Sprechchören, in den Wegen, in der Organisation, da merkt man in jeder Epoche ganz klare Unterschiede. Was Social Media betrifft, das hat natürlich auch einen Einfluss, aber das ist nicht auf die Demonstration als solches beschränkt, sondern bestimmt unser politisches Leben heute ganz anders."

Benjamin Grilj, Madlyn Miesgang und Michael Rieper

FM4 | Jenny Blochberger

Zu Besuch bei FM4: Benjamin Grilj, Madlyn Miesgang und Michael Rieper

Ringstraße statt Donauinsel

Was pragmatisch einfach notwendig ist, um das Recht auf Meinungsäußerung im öffentlichen Raum zu gewährleisten, auch das will das Projekt vermitteln. Bei drei Veranstaltungen waren VertreterInnen der Polizei, der Wiener Linien und der Rettung geladen und haben von ihrer Arbeit rund um Demonstrationen erzählt. Ihre Aufgabe ist es für Sicherheit zu sorgen und dafür, dass freie Meinungsäußerung an öffentlichen Orten sichtbar möglich ist und nicht etwa nur an Orten, wo eigentlich keiner ist, so Madlyn Miesgang. Demonstrationen können so die Ringstraße einnehmen, in zentraler Lage, und nicht, wie immer wieder gefordert wird, auf „Demozonen“ beschränkt werden, z.B. auf der Donauinsel.

„Demonstration lernen“ ist das Motto der letzten Veranstaltung im öffentlichen Raum, die am Dienstag, 11. Dezember, stattfindet. Treffpunkt ist in der Opernpassage, bei einem Workshop soll es ganz praktische Infos dazu geben, wie man Gleichgesinnte und eine Form finden kann, seinen Unmut kund zu tun.

Seit Anfang Oktober wird in Wien wieder wöchentlich demonstriert. Die von einer Gruppe Einzelpersonen initiierten Demos knüpfen an die Donnerstagsdemos gegen Schwarz-Blau von 2000/2001 an. Wie schätzt ihr diese neuen Donnerstagsdemos ein?

Das Projekt „Was haben diese Plätze schon gesehen?“ wurde gefördert vom Wissenschaftsrat der Kulturabteilung der Stadt Wien im Rahmen von „Republik in Österreich – Demokratie in Wien“. Ein Projekt von MVD Austria und dem Institut für jüdische Geschichte Österreich mit Unterstützung des future.lab und Displaced. Space for Change der TU Wien.

Benjamin Grilj: „Ich finde es interessant, dass das von Persönlichkeiten getragen wird und nicht von größeren Organisationen, wie das ja auch 2000 der Fall war, als am Anfang schon sehr massiv auch beispielsweise die österreichischen Hochschülerschaften dahinter gestanden sind, aber die Träger tatsächlich einzelne Persönlichkeiten waren. Wie es jetzt ausschaut, sind es auch wieder einzelne Persönlichkeiten, die dagegen aufstehen und sich klar positionieren und klar eine Meinung auf der Straße formulieren. Das finde ich sehr positiv und sehr schön, dass es so etwas gibt, weil sich ja mittlerweile eine Aufregungskultur im Netz entwickelt hat, die nicht öffentlich da steht und nicht öffentlich Stellung bezieht, sondern das halt in irgendwelchen Foren praktiziert – aber hier ist eine Gruppe, die ganz klar wieder den Raum bezieht. Demonstration lebt im Raum, Demokratie lebt im Raum.“

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