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Leïla Slimani

Catherine Hélie / Editions Gallimard

BUCH

Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt

Die Journalistin und Erfolgsautorin Leïla Slimani hat für ihr neues Buch „Sex und Lügen“ jungen Frauen zugehört. Es zeigt die schmerzliche Realität, das geteilte Leid und ein Stück Emanzipation von Frauen in Marokko.

Von Gersin Livia Paya

Leïla Slimani ist eine der interessantesten Schriftstellerinnen in Frankreich. Sie stammt aus Marokko und ist mit ihren Büchern ein wichtiger Part der westlichen Integrationsdebatte geworden. Letztes Jahr wurde sie zur persönlichen Beauftragten von Staatspräsident Emmanuel Macron zur Pflege des französischen Sprachraums ernannt.

Ihr aktuelles, drittes Buch widmet sich der Sexualität marokkanischer Frauen: „Sex und Lügen“ erschien in der deutschen Fassung am 10. September im btb Verlag.

Junge Frauen, Prostituierte, Ärztinnen und Moderatorinnen erzählen darin ungefiltert aus ihrem Leben. In den aktuellen Debatten über sexuelle Belästigung und Frauenrechte fehlt oft die Stimme der muslimischen Frauen. Dieses Buch erscheint zur richtigen Zeit, denn es verleiht den Frauen eine Stimme, die in der westlichen Gesellschaft sonst viel zu oft untergehen … auch schon vor #MeToo.

Buchcover "Sex und Lügen"

btb

„Sex und Lügen“ ist in der deutschen Übersetzung von Amelie Thoma bei btb erschienen

„Der Austausch mit diesen Frauen war für mich etwas ganz Besonderes. Ihre Worte sind es, die ich in diesem Buch weitergeben möchte als eindringliches Zeugnis unserer Zeit, aber auch ihres geteilten Leids.“ schreibt Slimani in ihrem Vorwort darüber, wie viel ihr daran gelegen ist, die Aussagen dieser Frauen ungefiltert niederzuschreiben.

Viele marokkanische Frauen leben ein Doppelleben, in dem sie nicht nur religiös sondern auch kulturell durch eine erzkonservative Gesellschaft unterdrückt werden. Die freie Partnerwahl existiert nicht, es ist tabu als Frau alleine auf der Straße zu gehen und die Ehre der Familie hängt von der Fügsamkeit und Unterordnung der Tochter ab. Und von ihrer Unberührtheit.

„Meinen Eltern ist Junfräulichkeit ungeheuer wichtig. Als meine Schwestern geheiratet haben, verlangten die Familien ihrer Ehemänner ein Jungfräulichkeitszertifikat, das mein Vater ihnen voller Stolz überreichte. Also hat meine Schwester mir erklärt, was das ist. Sie hat es mir aufgezeichnet und mir alles erzählt.“

Die Gesellschaft hat zwei Seiten. Um wirklich selbstbestimmt zu leben, sind Frauen dazu gezwungen, ihre Sexualität im Geheimen auszuleben.

„Wir Schwestern waren vollkommen schamlos. Als Satellitenschüsseln im Viertel Einzug hielten, schauten wir Pornofilme auf deutschen Sendern. Ich stand Schmiere, damit unsere Eltern uns nicht dabei erwischten. Anschließend verbrachten wir Stunden vor Venus TV.“, erzählt beispielsweise „Zhor“. Sie hatte von Leïla Slimanis Buch-Projekt gehört und wollte auch eine der Stimmen sein, die in „Sex und Lügen“ mutig aus ihrem Leben erzählen - unter anderem, weil sie mit 15 Jahren durch eine Vergewaltigung von drei Männern, ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. Zhors Geschichte ist nur einer der erschreckenden Einblicke in die Unterdrückungsgesellschaft Marokkos.

An der Uni habe ich ein Jahr lang im Studentenheim gelebt. Das war sehr lehrreich. Mir wurde bewusst, dass alle, ich meine wirklich alle, vögeln. Selbst komplett verhüllte Mädchen haben ein Sexualleben. Hauptsache man ist diskret. Ich habe sehr wenige kennengelernt, die einen gewissen Kampfgeist hatten. Die meisten haben zwei Gesichter, je nachdem, ob sie mit ihrer Familie oder ihren Freunden zusammen sind. Sie arrangieren sich, so gut sie können.

Die Interviewsammlung „Sex und Lügen“ ist eine Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit zwischen Tradition, Religion und dem natürlichen Wunsch nach Selbstbestimmung. Eine Art Schizophrenie, mit der sich eigentlich alle abfinden, herrscht in dieser Gesellschaft. Und: Die Generationen, die mit dem Internet groß geworden sind und noch aufwachsen werden, sehen, wie die Welt außerhalb der ihren tickt.

Sie merken, dass es Freiheiten für ihre Bedürfnisse gibt, das Internet hilft auf mehreren Ebenen, es führt zur Erkenntnissen und lässt sie auch manchmal ihre eigenen Sorgen vergessen. Emanzipation ist in der Theorie oft da, aber in der Praxis kaum möglich. Beispielsweise bekommen ledige Frauen nur sehr schwierig eine eigene Miet-Wohnung. Homosexualität und Sex vor der Ehe wird bestraft. Viele solcher Hindernisse setzen persönliche Grenzen.

„Frauen müssen einen Weg finden, um wieder Einfluss auf eine Kultur zu nehmen, die die Geistlichen und das ­Patriarchat an sich gerissen haben. Indem sie von sich erzählen, nutzen sie eine der mächtigsten Waffen ­gegen Hass und Heuchelei: das Wort“, schreibt sie in „Sex und Lügen“.

Leïla Slimani ist sicher nicht die erste, die über die sexuelle Frustration der arabischen Gesellschaft forscht und erzählt. Doch die Aktualität der Gespräche zeigt erneut auf, dass sich trotz der Globalisierung bis heute kaum etwas geändert hat.

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