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Theresa May

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Robert Rotifer

Brexit-Gemurmel

Theresa May drohte: Wenn ihr Deal mit der EU nicht durchgeht, gibt es gar keinen Deal - oder gar keinen Brexit. Diese Taktik konnte nur scheitern.

Von Robert Rotifer

„Guten Morgen“, sagten die Murmeltiere.
Ich grüßte höflich zurück.
„Wir hätten da was ganz Neues zum Brexit zu erzählen“, meinten sie.
Ja, aber ich bin doch gerade in Wien und hab für diesen Unsinn keine Zeit.

Was soll ich sagen, sie waren beharrlich, also hab ich mir ihre Geschichte dann doch angehört. Wie Theresa May ihr ganzes Kabinett zähneknirschend aber doch vereint hatte. Hinter einem Kompromiss, der zwar niemand gefalle, aber immer noch besser sei als die Alternative des Chaos. Ein Durchbruch also, nachdem sie nun plötzlich doch wieder souverän aussehe, weil nun alle, die sich ihrem Deal entgegenstellten, als die Unverantwortlichen dastehen würden.

Kaum hatte Murmeltier 1 das ausgesprochen, setzt Murmeltier 2 fort: „Aber jetzt ist der Minister für den EU-Austritt zurückgetreten, und damit ist wieder alles offen.“ Genau dasselbe hatten wir natürlich schon im Juli nach dem Treffen der Regierung in Chequers, dem Landsitz der Premierministerin, erlebt. Ein paar Stunden grummelnde Einigkeit, gefolgt vom Rücktritt des EU-Austrittsministers – damals David Davies, diesmal sein Nachfolger Dominic Raab.

Ein paar Unterschiede bestehen dennoch: Diesmal gibt es keinen Boris Johnson mehr, der dem Austrittsminister mit seinem eigenen Rücktritt folgen könnte. Dafür ist sein jüngerer Bruder Jo Johnson bereits vergangene Woche vorsorglich zurückgetreten. Als Remainer, der ebenfalls den Deal von Theresa May nicht unterstützen wollte.

Gestern hatte May eine der vielleicht dümmsten Ansagen ihrer an solchen nicht armen Laufbahn („Brexit is Brexit“, „We want a red-white-and-blue Brexit“, „No deal is better than a bad deal“, „Nothing has changed!“) von sich gegeben: Die einzige Alternative zu ihrem Deal sei entweder kein Deal oder kein Brexit.

Theresa May

APA/AFP/Ben STANSALL

Das ist eine eigentümliche Form der Drohung, wenn sie es auf beiden Seiten ihrer gespaltenen Regierung bzw. Partei mit Widersacher_innen zu tun hat, die a) keinen Deal oder b) keinen Brexit wollen. Für beide dieser entgegengesetzten Fraktionen musste das daher nicht abschreckend, sondern geradezu ermutigend klingen. Kein Wunder, dass Raab den Hut nahm. Selbst wenn er seinen Posten behalten hätte wollen, hätten seine Kolleg_innen von der Hardcore-Brexit-Fraktion ERG ihn als Verräter gebrandmarkt. Die von mir gerade gebrauchte Abkürzung steht übrigens für die Tory-interne „European Research Group“ und ist an unfreiwilliger Selbstironie kaum zu überbieten, schließlich versammeln sich darin genau jene Leute, die möglichst wenig von Europa wissen oder wissen wollen, es sei denn, die Geschichte handelt von flugfähigen Einhörnern, die auf den sonnigen Feldern eines von allen Regeln befreiten neuen globalen Britischen Handels-Empire grasen.

Dominic Raab selbst, einst von der ERG als eine ihrer großen Leuchten gefeiert, ließ letzte Woche aufhorchen, als er in einer Rede erklärte: „Ich hatte bisher nicht die ganze Tragweite davon verstanden, aber wenn Sie sich das Vereinigte Königreich ansehen und wie wir mit Gütern handeln, dann sind wir besonders abhängig von der Überfahrt zwischen Dover und Calais.“

No shit, Sherlock, wie man in Britannien zu sagen pflegt.

Was mich zu dem vielsagenden Grund bringt, warum Jo Johnson zurückgetreten ist: Der war nämlich nicht nur Staatssekretär (auf Englisch „minister“) im Verkehrsministerium, er ist auch der Abgeordnete für den Wahlkreis Orpington in Kent, gelegen in dem Flecken Land zwischen der Londoner Ringautobahn M25, sowie den indirekt und direkt nach Dover führenden Autobahnen M26, M20 und M2. Ich klopfe mir ja ungern selber auf die Brust, aber hab ich nicht immer schon gesagt:

Wenn tägliche Staus drohen, ist es mit der liebe der „Little Englanders“ zum Brexit vorbei, und genau auf diesen Fall begann sich das Verkehrsministerium einzurichten. Die M26 wird bereits für den Zweitgebrauch als LKW-Parkplatz umgebaut, und natürlich findet die Bevölkerung, die auf diesen Autobahnen pendelt, das wenig lustig. Jo Johnson konnte sowas in seinem Wahlkreis also gar nicht verantworten, und viele seiner Kolleg_innen, zum Beispiel in Wahlkreisen, wo von reibungslosem Handel mit Europa abhängige Fabriken stehen, denen nun die Schließung droht, werden das genauso sehen.

Na ja, könnte man sagen, aber Mays Deal mit der EU hätte doch gerade den temporären Verbleib in der Zollunion ermöglicht. Das aber, in Johnsons Worten, nur mit Großbritannien als „Vasallenstaat“, der Regelungen der EU übernehmen muss und nicht mitbestimmen darf. Und das ist der Punkt, wo der harte Kern der Remainers und Leavers sich einig sind. Wenngleich mit ganz konträren Schlussfolgerungen. Jo Johnson hat sich daher weit aus dem Fenster gelehnt und das von seiner Ex-Chefin mehrmals ausgeschlossene Zweite Referendum gefordert.

Die angeblich pragmatischen Gegner_innen dieser Lösung sagen immer: Wenn – wie Umfragen zufolge übrigens überhaupt nicht eindeutig gesagt, aber relativ wahrscheinlich – eine solche Abstimmung zugunsten eines Doch-Verbleibens in der EU ausgeht, wird sich die Hälfte des Volks verraten fühlen, und es wird großen Unfrieden geben. Für die Demokratie sei es besser, Mays Deal trotz aller seiner Nachteile zu unterstützen, weil er das Resultat des Referendums vor zwei Jahren respektiert.

Jo Johnson

APA/AFP/Daniel LEAL-OLIVAS

Jo Johnson

Ich halte das für einen ausgemachten Unsinn: Denn selbst wenn May gegen den Widerstand der Brexiteers der eigenen Fraktion ihren Deal mit Unterstützung von „pragmatisch“ Brexit-freundlichen Labour-Abgeordneten durchs Unterhaus bringt (Corbyn scheint für eine Ablehnung zu sein, aber viele aus seinen Reihen könnten rebellieren): Mit der von ihr ausverhandelten Übergangsperiode begänne für Boris Johnson, die ERG und Rechtspopulisten wie den immer wiederkehrenden Nigel Farage eine neue Jagdsaison. Sie brauchen dann bloß wieder ihr altes Lied zu singen: Brüssel macht die Regeln, wir gedemütigten britischen Löwen müssen nach seiner Pfeife tanzen, und dürfen nicht mitbestimmen!

Bloß: Diesmal hätten sie damit auch noch recht. Schon überhaupt, wenn sich dieser Schwebe-Zustand wie vorauszusehen in ein permanent temporäres Provisorium auswächst.

Nein, Mays Deal ist keine pragmatische und nicht die beste von allen schlechten Optionen, sondern eine wahre Zeitbombe. Eine Einladung zu noch mehr Europa-feindlicher, chauvinistischer, faktenferner Demagogie, samt der damit einhergehenden Radikalisierung des politischen Klimas in Großbritannien. Der Unfrieden, den ein neues Referendum schafft (für das es aus Zeitgründen nun wohl einer temporären Aussetzung des Artikel 50-Prozesses bedürfte), wäre dieser Aussicht wohl vorzuziehen. Detto der von Labour angestrebte Fall einer Neuwahl, bei der May kaum mehr als konservative Kandidatin tragbar wäre. Den Konservativen droht dann wohl ein offener Fraktionskampf um den Vorsitz zwischen den Besonneneren und den harten Brexiteers, aber man sollte die Houdini-Qualitäten einer Partei nicht unterschätzen, die im Zweifelsfall den Machterhalt über alle Differenzen stellt.

Nachdem sich die Labour Party an diesem Thema ebenfalls zu spalten beginnt, stünde dann nämlich für einen wie Jo Johnson der Weg zur Macht offen. Und er hätte seinen großen Bruder ausgetrickst.

„Na ja, wenn du meinst“, sagten darauf die Murmeltiere, offensichtlich ermüdet, „dann bis demnächst wieder.“

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