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A Head Full Of Dreams

Zwanzig Jahre Coldplay: Die wunderschöne Dokumentation über eine Band, die sich selbst verkauft hat.

Von Lisa Schneider

Die beste Szene der Dokumentation „A Head Full Of Dreams“ nimmt schon der Trailer vorweg. Chris Martin, noch keine zwanzig Jahre alt, mit Zahnspange und dichtem blonden Lockenkopf grinst in die Kamera. „Jonny, Will, Guy, Chris aka Coldplay. This is going to be massive. Don’t you forget to check it out.“ Schnitt, und die Kamera steht plötzlich hinter dem zwanzig Jahre älteren Martin, in einem Stadion in Sao Paolo, auf der letztjährigen „A Head Full Of Dreams“-Tour. Millionen Leute waren dabei, noch mehr Millionen Euro wurden in Form von Schmetterlings-Konfetti und sonstigem Feuerwerks-Allerei in die Luft gepulvert. Wer hätte das gedacht.

Mat Whitecross, der schon die „Supersonic“-Dokumentation über Oasis gedreht hat, ist seit vielen Jahren mit der Band Coldplay befreundet. Wie die Mitglieder untereinander, lernt auch er sie während seiner Zeit am University College in London kennen. Wie es Glück und Zufall so haben wollen, hat er immer die alte Kamera seines Vaters dabei. Diese Aufnahmen, die so zuvor noch nie gezeigt wurden, sind jetzt in die „Head Full Of Dreams“-Doku eingeflossen. Sie deckt zwanzig Jahre ab - vom Beginn der Band 1998 bis heute.

Die Dokumentation „A Head Full Of Dreams“ war am 14. November europaweit in ausgesuchten Kinos zu sehen. Ab 16. November steht sie auf Amazon Prime zum Streaming bereit.

Von A bis Z

Whitecross arbeitet sich chronologisch durchs Material, alles beginnt mit dem ersten Coldplay-Gig am 16. Jänner 1998, als Coldplay noch als „Starfish“ auf der Bühne gestanden sind. In kleinen, abgeranzten englischen Bars tingelt man umher, im Mittelpunkt immer Strahlemann, ungebändigtes Energiebündel und kreativer Mittelpunkt der Gruppe Chris Martin. Guy Barryman, der Ruhige, Jonny Buckland, der Ruhigste. Will Champion, eigentlich Gitarrist, für Coldplay zum Schlagzeuger geworden. Sein kurzzeitiges Ausscheiden und das ziemlich sofortige Zurückholen könnten auf inhaltliche Kontroversen, aber auch auf fehlendes Können - damals - zurückzuführen sein. Die Varianten dieser Geschichte sind, wie man sich denken kann, mannigfaltig.

Erzählt wird die ziemlich geradlinige Geschichte einer Band, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Gründe heute eine Indierockband, kein Hahn wird danach krähen. Gründe vor zwanzig Jahren eine Indierockband, ist der Zug zwar auch schon am Abfahren, aber der letzte Waggon steht noch offen. Oasis sind keine ganze Generation älter, aber doch gute zehn Jahre. Zehn Jahre, in denen sie neben Pulp, Blur und Co den Britpop der 90er Jahre maßgeblich geprägt haben. Chris Martin und seine Band - man muss es so sagen, oder zumindest lässt die Dokumentation nur diesen Schluss zu: ohne Martin keine Songs - schmiegen sich elegant unwissentlich noch hinein, bevor sich die Zukunft vermehrt in Richtung Hiphop und R’n’B wenden wird.

Schnell zum kommerziellen Durchbruch

Sie starten mit „Parachutes“ und legen „A Rush Of Blood To The Head“ nach, zwei Jahrhundertalben. Dazwischen gibt’s Gigs am Glastonbury Festival - in einem Zelt weitab der Menge, wohlbemerkt; es gibt die ersten Interviews, die ersten größeren Touren. Es gibt die Rückschläge, Identitätskrisen, Schaffenspausen, vor allem auch, als Bandmanager und bester Freund Martins Phil Harvey seinen Job abgibt.

Und natürlich vergehen zwanzig Jahre nicht ohne Schrammen. Berufliche, private. „X&Y“, das dritte Album, hätten Coldplay so wohl nicht mehr aufgenommen. Mühsames Weitermachen, Aufnehmen, Veröffentlichen. Künstlerisch für die Band nicht erfüllend, aber für alle anderen völlig unerheblich: Verkaufstechnisch knüpft auch das dritte, schwächere Album an die ersten beiden an. Die Kommerzialisierung einer Schlafzimmer-Band hat bei Coldplay kurz nach Veröffentlichung des ersten Albums begonnen und seither, ob mit guten ob weniger guten Songs, ihre Fortsetzung genommen.

„Viva La Vida“ ist das letzte Album von Coldplay, das noch ein Fünkchen des Idealismus, der Einzigartigkeit der Anfangsjahre in sich hat. Es ist nicht mehr so akustisch-intim und folklastig wie „Parachutes“. Es ist bei weitem nicht so intellektuell wie „A Rush Of Blood To The Head“. Aber immerhin, es gibt da großartige Songs wie „42“ oder „Death And All Of His Friends“.

Zu viel Offenheit?

Im Laufe der Jahre hat sich der Kern an Menschen, der sich um Coldplay bewegt, nicht großartig verändert. Das betonen sie auch in der Dokumentation. Das „we are all brothers“ mag man oft gehört haben; dass aber eben ihr Kameramann zum Kreis der engsten Freunde gehört, genauso wie derjenige, der ihnen jetzt, im Stadion vor Tausenden, die Gitarren reicht, trägt schon bei zum großen familiären Kosmos Coldplay. Bis zum Album „Mylo Xyloto“, wo man das Öffnen der Band nach außen, das Einbeziehen von Kollaborationspartnern erstmals auch richtig zu hören bekommt. Rihanna leiht ihre Stimme auf „Princess Of China“. Es ist schrecklich. Beyoncé singt fürs neue, aktuelle Album „A Head Full Of Dreams“ ein, sogar Großmeister Noel Gallagher sitzt im Studio und zupft ein paar Saiten. Dass es ihm sichtlich zuwider ist, wie der Output klingt, weiß sogar Chris Martin. In seiner offenen Selbstironie ist er der Sympathieträger überhaupt.

Was also machen Coldplay nach Indie-Erfolgen, nach Mainstream-Durchbruch, nach Grammys und Brit-Awards? Brian Eno wird angeheuert. Sie singen in verlassenen Stiegenhäusern. Sie setzen sich Trommeln auf den Kopf. Im Zuge all dieser Selbsterneuerung kommen Gräueltaten wie „Something Just Like This“ zustande. Chainsmokers nicken im Takt mit. Gern hätte ich Jonny oder Guy beiseite genommen, während der Dokumentation, wenn wiedermal eine noch größere Halle, noch bunter und lauter als zuvor, gezeigt wird. Wo die beiden Bass und Gitarre zupfen, zu solch blutleerem EDM-Geballere. Ein, zwei Fragen an sie wären mir da schon eingefallen.

Es ist ein physisch und psychisch schmerzvoller Moment, wenn Chris Martin die Bandkarriere mit einer Bergwanderung vergleicht. Das letzte Album, „A Head Full Of Dreams“, sei der Höhepunkt. Das, wo sie immer hinwollten. Man mag noch verstehen, was er meint, wenn er den Beginn der Geschichte eines bestimmten Songs erzählt. Jonny Buckland spielt ein kurzes Solo an der Gitarre, es ist so ein Moment: Ja, das ist es! Daraus machen wir was! Kameraschnitt: die große Bühne, das ehemals schlanke, gut getaktete Gitarrensolo, vergewaltigt hinein in eine überproduzierte, belanglos-nervige Nummer namens „Adventure Of A Lifetime“. Es tanzen auch Affen im Video.

Zuckerwatte, die nach nichts mehr schmeckt

Coldplay haben eine unvergleichliche Erfolgsstory hinter sich. Sie haben hart gearbeitet. Sie waren am Anfang tatsächlich noch eine „Indie“-Band, die selbst aufgenommen, selbst produziert hat. In deren auf Video aufgezeichneter Geschichte es so wunderbare Schätze wie das erste Demo-Tape von „The Scientist“ gibt. Nur Chris Martin, allein am Klavier. Dass auch Coldplay nicht ewig die verpickelten Spätteenager bleiben werden, deren Idealismus vormals irgendwo bei Neil Young zu suchen war, sei dahingestellt.

Nur haben sich Coldplay - abgesehen von „Ghost Stories“, dem eher unbeachteten Stiefkind-Album zwischen „Mylo Xyloto“ und „A Head Full Of Dreams“ - mittlerweile all dessen entledigt, wofür sie früher einmal gestanden sind.

Es scheint unmöglich, die Band, die Coldplay jetzt darstellt, mit der zusammen zu bringen, die die ersten beiden Alben geschrieben hat. „We never change, do we“, hat Chris Martin einmal geschrieben. Es fällt dennoch schwer, nach „Clocks“ oder „In My Place“ zu glauben, demselben Geist sei „A Head Full Of Dreams“ entsprungen.

Jetzt - der überbunte Popplastikzirkus, belanglose Stadion-Hymnen, Pomp, Glitzer, Feuerwerk. Total entertainment forever: die pure Sensationsbefriedigung von Menschen, die sonst eigentlich keine Musik mögen. Immerhin, durchaus stadiontaugliche Singalongs waren auch schon „Yellow“ oder „Viva La Vida“. Nur für die hat Chris Martin zumindest noch eine Band gebraucht. Mittlerweile sieht es so aus, als könnte er als übermütiger Animateur die Show auch gut und gerne alleine liefern: Die Musik klingt dementsprechend sinn- und substanzentleert.

Gerade wurde angekündigt, nach ihrem Jahr Sabbatical wollen sich Coldplay wieder im Studio einfinden. Es soll etwas Neues sein, etwas Überraschendes. Also vielleicht doch: Everything’s not lost.

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