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Linnahall

Samuel Schaab

Heiße Sowjet-Dinosaurier

Seit ein paar Jahren trendet Ruin-Porn. Einschlägige Fotos auf Instagram erzählen von der seltsamen Faszination von verlassenen und verfallenden Gebäuden. Ein Selbstversuch in Tallinn in Estland - mit Triggerwarnung.

Von Anna Masoner

Befreundete Architekten haben mir von Tallinn erzählt. Von der mittelalterlichen und kitschigen Altstadt, in die jeden Sommer ganze Horden von Kreuzfahrerinnen und Kreuzfahrern einfallen. Im selben Satz bekommen sie große Augen, wenn sie von einem riesiges Sowjetraumschiff schwärmen, das man nur aus der Luft überblicken kann. Die Linnahall, ein gewaltiger Bau zwischen Altstadt und Ostsee.

1980 wurde sie als „W.-I.-Lenin-Palast für Kultur und Sport“ von einem estnischen Stararchitekten gebaut - anlässlich der Olympischen Spiele in Moskau. In Tallinn wurden die Segelbewerbe abgehalten. Unter dem Dach der Linnahall finden sich neben einer Konzerthalle mit knapp 5.000 Sitzplätzen ein unterirdischer Eisring, eine Kegelbahn, ein Club, mehrere Cafés und Aufnahmestudios.

Linnahall Meerblick

Anna Masoner

Betonbombast Linnahall

Seit 10 Jahren steht die Linnahall leer. Urban Explorer und Architekturnerds verehren den Bau, der je nach Sichtweise an einen aztekischen Tempel, einen Betonbunker oder einen mittelalterliche Trutzburg erinnert. Für Immobilieninvestoren ist der Bau potthässlich, gehört abgerissen, weil in Prime-Lage am Meer, und durch schicke Appartmentkondos ersetzt. Die Stadt hat keine Ahnung, was mit dem überdimensionierten Monsterbau passieren soll. Der Bau lässt sich nicht wirklich umgestalten, weder in ein Konferenzzentrum noch in ein Kunst- und Kulturquartier. Das Geld zum Renovieren fehlt auch.

Linnahall Außen

Anna Masoner

Weil sowieso eine Reise nach Tallinn ansteht und weil ich Ruinenerotika auch ganz gut finde, will ich mir das verfallende Monsterding mal ansehen.

Das krasseste Designfeature der Linnahall sind die Tausenden Stufen. Das Dach besteht aus diversen Plattformen, auf denen man sich verirren kann.

Linnahall außen

Anna Masoner

Die Steinstufen zerbröseln unter den Schuhen, in den Ritzen wachsen Gras und seltsame Kräuter. Ganz oben angekommen und völlig außer Puste, kann man das Gesicht in die herrlichsten Sonnenuntergänge halten und auf die Ostsee schauen.

In dieser Ruine wird Geschichte greifbar

Normalerweise kommt man in die Linnahall nicht so einfach hinein, aber ich hab ein Rendez-Vous mit Andres Kurg, einem hippen Architekturtheoretiker und einem der größten Fans der Linnahall. Er hat schon viel über den Kulturpalast geschrieben und vor ein paar Jahren gemeinsam mit anderen erfolgreich gegen den Verkauf der Linnahall an Immobilienentwickler lobbyiert. Nicht nur, weil sie ein architektonisches Prachtstück ist, sondern auch, weil sie ein Treffpunkt vor allem für die russischsprachigen Jugendlichen in der Stadt ist und einer der wenigen nicht kommerzialisierten öffentlichen Orte.

Linnahall

Samuel Schaab

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Bundeskanzleramt

Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen von eurotours 2018 – einem Projekt des Bundespressedienstes, finanziert aus Bundesmitteln.

Andres lotst mich durch die langen Gänge der Linnahall, vorbei an Kübeln, in die es durch die undichte Decke tropft. Wir erreichen das Herz der Linnahall, eine gewaltige halbkreisförmige Konzerthalle. Statt dem Glamour russischer Superstars füllt heute der Geruch des vermoderten Teppichbodens den Raum. An der Linnahall mussten alle mitbauen, Studierende und Pensionisten, weil sie sonst nicht rechtzeitig fertig geworden wäre für die Eröffnung der Spiele, erzählt Andres. Der Pfusch am Bau und die in der Spätzeit der Sowjetunion katastrophalen Baumaterialien sind die Gründe für den heute so schlechten Zustand. Spaziert man durch die Linnahall, macht man eine kleine Zeitreise in die Sowjetunion der 80er Jahre. Geschichte wirkt plötzlich so greifbar, wenn man sich in die staubigen Polstersessel plumpsen lässt oder durch die enormen unterirdischen Gänge geht, durch die Sowjetbonzen zu Konzerten und Versammlungen geschritten sind.

Bühne Linnahall

Anna Masoner

Wichtiger Bau für ethnische Identität

Die Linnahall wirkt völlig aus der Zeit gefallen. Sie nimmt sich für heutige Verhältnisse unverschämt viel Platz. Heute wachsen Immobilien ja in den Himmel, weil der Boden so wertvoll geworden ist. Während in der ganzen Welt gleichförmige Hochhäuser in Glas und Stahl hochgezogen werden, hat dieser massive Bau fast etwas Heimeliges.

Auch in Estlands Unabhängigkeitsbewegung hat das Gebäude eine wichtige Rolle gespielt, erzählt Andres Kurg. So wurde in einem der Tonstudios 1987 ein Song aufgenommen, der zu einem der wichtigsten Hits während der sogenannten singenden Revolution wurde.

Warum sollen nur antike Ruinen schön sein?

Ich überlege kurz, was ich mit der Linnahall anfangen würde. Ich komme nicht weit. Beim Rausgehen beobachte ich die Joggerinnen, die die Stufen rauf-und runtersprinten. Oder die BMXler, die auf den kaputten Mauern herumhüpfen, ohne abzustürzen.

Linnahall sonnenuntergang mit Menschen

Anna Masoner

Zum Biertrinken verabreden sich jetzt im Herbst nur die Harten. Vielleicht ist das Verfallen-Lassen gar nicht die schlechteste Strategie. Warum sollen wir nur die Ruinen von römischen Theatern schön finden? Sie ist auch schön, die alte Sowjettante, und sie bleibt inzwischen ein unkommerzieller Ort mit sehr viel realness.

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