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My Bloody Valentine

Anna Meldal

30 Jahre Shoegaze

Am 21. November 1988 erschien „Isn’t Anything“, das Debütalbum der Band My Bloody Valentine. Eine Pionierarbeit für das, was später Shoegaze heißen sollte.

Von Christoph Sepin

Natürlich lässt sich die Entstehung der Shoegaze-Musik, wie bei vielen kulturellen Strömungen, nicht eindeutig an ein Datum binden. Bands wie The Jesus and Mary Chain gibt es seit den frühen 80ern und sie sind mit ihren verwaschenen, verzerrten Gitarren und darin untergehendem Gesang Urväter des Sounds. Und noch weiter zurück gibt es Gruppen wie The Velvet Underground als musikalische Visionäre, die gleich mehrere Genres beeinflussten, darunter verträumten Dream Pop und Shoegaze.

Shoegaze im House of Pain:

  • Vor genau 30 Jahren ist das Debüt von My Bloody Valentine erschienen, Christoph Sepin nimmt das Album als Pionierarbeit der Shoegaze-Szene genauer unter die Lupe und spricht mit den Gründern des Vereins zur Förderung der Shoegaze-Musik. Plus: Musik von My Bloody Valentine und darüber hinaus.
  • Anzuhören am Mittwoch, 21. November, ab 22 Uhr und gleich im Anschluss an die Sendung für 7 Tage im FM4 Player.

Spricht man aber mit Anhängern und Anhängerinnen der Musik über die Anfänge, dann taucht gleich mal der Name My Bloody Valentine auf. „Als ich zum ersten Mal diese Band gehört habe, war das für mich - das klingt jetzt schon fast esoterisch - wie eine Erweckung“, erinnert sich Kerstin Kratochwill vom Verein Sublime. Der Verein mit Sitz in Regensburg hat es sich zur Aufgabe gemacht, Shoegaze-Musik, -Musiker und -Musikerinnen zu fördern, macht Veranstaltungen und schreibt über Shoegaze-Platten. „Stimmen klingen auf einmal wie Instrumente. Eine völlig neue musikalische Welt, die sich da aufgetan hat.“

Und tatsächlich lässt sich anhand von My Bloody Valentine die Shoegaze-Musik nicht nur stilistisch, sondern auch historisch kartographieren. Angefangen beim produktionstechnischen Zugang von Vokalist und Gitarrist Kevin Shields: „Er hat eigentlich nicht mit Effekten gearbeitet, sondern eher experimentiert“, weiß Jochen Lämmel, Vorstand des Shoegaze-Vereins Sublime. „Er hat versucht einen Akkord dauernd zu wiederholen. Man kennt das auch aus der Chiptune-Musik: Man hat einen Kanal, möchte einen Dreiklang spielen, kann das aber nicht weil man nur einen Ton hat. Dann spielt man den Dreiklang immer schneller. Und wenn das immer schneller wird, wird das irgendwann überwältigend. Kevin Shields hat das aus der Gitarre rausgeholt, nicht aus den Effekten.“

My Bloody Valentine

High Road Touring

My Bloody Valentine

Menschen, die auf Pedale starren

Ein musikalischer Zugang, der in weiterer Folge von zahlreichen Bands kopiert und weiterverarbeitet wurde. Unzählige Effektpedale auf der Bühne, durch die das Gitarrensignal gejagt wurde, wurden nicht nur zum Erkennungsmerkmal von Shoegaze-Bands, sondern gaben dem ganzen Genre auch erst seinen Namen: In einer Konzertreview der Band Moose wurde der Stil des Gitarristen K.J. „Moose“ McKillop als „shoegazing“ bezeichnet, weil McKillop während der Show durchgehend auf seine Effektpedale am Boden starrte. Die Bands selbst waren nicht wirklich glücklich über diese Bezeichnung, die von Anfang an eher abwertend verwendet wurde. Trotzdem war der Name geboren und sollte bis heute bleiben.

Es sind aber nicht nur technische, sondern auch inhaltliche Konzepte in der Musik von My Bloody Valentine und auf dem vor genau 30 Jahren veröffentlichten Debüt „Isn’t Anything“, die später zahlreiche Bands der Shoegaze-Szene inspirierten: Lieder auf dem Album beschäftigen sich mit eskapistischen Schlafzuständen, Atemlosigkeit und wolkig-verwaschenen Tagträumereien und tragen Namen wie „(When You Wake) You’re Still in a Dream“, „Soft as Snow (But Warm Inside)“ oder „I Can See It (But I Can’t Feel It)“. Sängerin Bilinda Butcher erinnert sich an die Aufnahmen des Albums und dass sie immer am Morgen aufgeweckt werden musste, um ihre Vocals einzusingen. Verschlafen versuchte sie sich während dem Singen daran zurück zu erinnern, von was sie gerade träumte. Dream Pop kann man sowas nennen, Elemente, die von zahlreichen Bands innerhalb des Shoegaze-Universums adaptiert wurden.

Es war in den frühen 90ern, als es ein kurzes Aufblitzen des Shoegaze-Universums gab: Gruppen wie Slowdive spielten mit langsamen, hypnotisierenden Wiederholungen und psychedelischen Soundwänden, Bands wie Ride hatten einen rockigeren, schnelleren Zugang zur Musik. Trotzdem hatten alle dieser Bands etwas gemeinsam: Walls of Sound, Instrumente, die immer mehr und mehr werden, Klangwolken, in denen man völlig untergeht und Vocals, die mit den Instrumenten gleich gestellt waren und oft komplett in den Verzerrungen untergingen. Lang sollte sich diese neue Musikkultur aber nicht halten, denn die (britische) Öffentlichkeit wollte einen ganz anderen Sound hören.

Verschwinden und Revival

Auch das rasante Verschwinden der Shoegaze-Musik in den 90ern lässt sich anhand von My Bloody Valentine betrachten. Musikmedien hatten von Anfang an Probleme mit der Szene, die teilweise als belanglos bezeichnet wurde. Und auch neue musikalische Bewegungen, wie Acid-House, eine neue Clubkultur und vor allem der Brit-Pop mit Bands wie Blur und Oasis und der neuen „laddish culture“, männlich besetzte Szenen rund um Fußball, Pubs und Bier waren nicht wirklich kompatibel mit der verträumteren Shoegaze-Musik.

„Was am Shoegaze auch toll war, war dass so viele Frauen in den Bands waren, die gleichberechtigt gespielt und komponiert haben. Auf einmal war das weg“, erinnert sich Kerstin Kratochwill vom Shoegaze-Verein Sublime. „Heute würde es sowas gar nicht mehr geben, dass ein Genre quasi ein anderes frisst. Das war ein bisschen ein bitteres Ende“. My Bloody Valentine sollten noch ein Album veröffentlichen, das bis heute gefeierte „Loveless“ - und dann wie viele andere Shoegaze-Bands verschwinden. Bis die gesamte Szene Jahre später ein Revival feierte.

Weiterhören! Musikalische Empfehlungen vom Shoegaze-Verein Sublime

Die Bands existierten schon gar nicht mehr, als eine neue, aufgeschlossene Generation von Musikhörenden und Musikmachenden plötzlich den Shoegaze entdeckte. Neue Bands versuchten wieder den Sound von My Bloody Valentine zu kopieren, immer mehr alte Gruppen wurden durch neue Aufmerksamkeit dazu gedrängt, wieder auf die Bühne zurückzukehren. Darunter auch My Bloody Valentine, die nicht nur auf Welttour gingen, sondern auch - 22 Jahre nach dem letzten - ein neues Album veröffentlichten. Das fast absurde an der ganzen Situation und der späte Triumph der Shoegaze-Szene: Plötzlich standen die Bands, Jahrzehnte nach ihrer Gründung, dank ihres neuen Publikums vor volleren Konzerthallen als jemals zuvor.

Mittlerweile hat sich der Shoegaze-Begriff nicht nur komplett von seiner abwertenden, ursprünglichen Bedeutung distanziert, sondern ist auch so tief in der Popkultur verankert, dass ganz neue Wortschöpfungen daraus entstehen. Die Band My Vitriol bezeichnete sich selbst scherzhaft als „Nugaze“ und Gruppen wie die Kalifornier Deafheaven werden als Mischung aus Black Metal und Shoegaze als „Blackgaze“ bezeichnet. Und irgendwie hätte es das alles so nicht gegeben, wäre da nicht vor dreißig Jahren die Gruppe My Bloody Valentine mit ihrem Debütalbum „Isn’t Anything“ gewesen, die visionär den Grundstein für eine musikalische Welt gelegt hat.

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