Das Ende Europas
Von Pia Reiser
Willkommen am Ende der Welt. Als das galt Gibraltar in der Antike und hier eröffnet „Styx“ mit Bildern von in der Stadt herumturnenden Affen, während im Hintergrund eine von Dirk von Lowtzow angeschlagene Gitarre wabert. Die Bilder der Affen im urbanen Raum, die hier an Kabeln herumklettern und zwischen parkenden Autos spazieren, verursachen Unbehagen. Menschen sind keine zu sehen, und Tiere, die die Stadt erobern, so könnte auch das Ende der Menschheit aussehen, hier am geografischen Ende Europas. „Styx“ erzählt aber vom Ende der Menschlichkeit und vom Ende der Idee des offenen, humanistischen Europas.
Auf offener See, mitten am Atlantik trifft Rike (Susanne Wolff) - der Name bedeutet die Reiche - mit ihrer 12-Meter-Segelyacht auf einen havarierenden Fischkutter, auf dem sich Flüchtlinge befinden. Die deutsche Notärztin war unterwegs zu einem Paradies, einer Insel namens Ascension Island, doch sie landet - der Titel nimmt das vorweg - im Totenreich. Styx ist in der griechischen Mythologie der Fluss, der die Lebenden von den Toten trennt, das Wasser des Grauens.
Rike funkt die Küstenwache im Hilfe an, doch Hilfe taucht nicht auf. In der Nähe befindliche Frachter haben die Anweisung in solchen Situationen nicht einzugreifen. Die Ärztin ist, um jetzt nochmal die griechische Mythologie zu bemühen, zwischen Skylla und Charybdis. Ein moralisches Dilemma, dem man sich selbst nicht mal als Gedankenexperiment aussetzen will. Sie kann nicht alle Menschen, die auf dem langsam sinkenden Boot sind und um Hilfe rufen, auf ihr Boot aufnehmen, dann würde sie untergehen. Sie kann aber auch nicht einfach weiterfahren.

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Den havarierenden Fischkutter zeigt „Styx“ lange nur aus der Ferne, schemenhaft sieht man Menschen winken und ins Wasser springen, die Schreie trägt der Wind nur leise zu Rike rüber. „Styx“ braucht keine Nahaufnahmen von verzweifelten Gesichtern, um die Katastrophe, die hier passiert (und bei der der sonst oft im Kino tröstende, gedankliche Rettungsring „gottseidank ist das nur ein Film“ nicht greift) begreiflich zu machen.
Bevor Rike in See sticht, sehen wir sie nur in einer Szene, als Notärztin im Einsatz, bei einem Autounfall mitten in der Nacht. Doch nicht nur den Beruf der Hauptfigur bekommen wir hier vermittelt, der reibungslose Rettungseinsatz bei diesem Unfall, wie die Rettung, Polizei und Feuerwehr sofort zur Stelle sind und helfen, zeigt ein System, das funktioniert. Unvorstellbar für unser westliches Hirn, das gerufene Hilfe nicht kommt, dass der staatliche Apparat nicht zu schnurren beginnt.

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Interview mit „Styx“-Regisseur Wolfgang Fischer im FM4 Interviewpodcast
Die auf dem Meer abgefeuerte Signalrakete bleibt ohne Wirkung. „Styx“ bricht den Umgang Europas mit Menschen, die über das Meer nach Europa fliehen, auf ein Kammerspiel auf hoher See herunter. Die Bilder von der Einsamkeit am offenen Meer, von Sturm, Wind und peitschenden Wellen sind atemberaubend. Gesprochen wird kaum in „Styx“ und wenn dann muss die verheerende Katastrophe eingezwängt werden in das Korsett der sachlichen Funksprache. Copy, Roger, Over, hört man dann, Längengrade, Breitengrade und buchstabierte Namen der Schiffe obwohl man als Zuseher am liebsten um Hilfe schreien möchte.
„Styx“ startet am 23.11 in den österreichischen Kinos
Ein Thema, das so emotional diskutiert wird zu bebildern und in ein Narrativ zu packen, aber nicht in erklärerischen oder wohlmeinenden Dialog zu packen, ist eine der vielen schlauen Entscheidungen, die die DrehbuchautorInnen Wolfgang Fischer und Ika Künzel getroffen haben.
Die beiden glauben an ein mündiges Publikum und dass ein Film davon profitiert, wenn man nicht alles ausformuliert und ausschildert, sondern ihn im Kopf der Zuseher weiterwabern lässt. Wer noch einen Funken Neugier im Kopf hat, wird den Namen von Rikes Boot nach dem Film nachschlagen. Und lernen, dass Asa Gray ein Botaniker und Freund Charles Darwins war, der allerdings daran glaubte, dass „die Menschheit eine einzige durch eine gemeinsame Herkunft vereinte Art konstituierte.“ Und Ascension Island, wohin Rike eigentlich unterwegs war, war ursprünglich eine karge Insel bis Darwin angefangen hat, Pflanzen und Bäume einzuschiffen und anzupflanzen und sich eine Flora entwickelt hat.
Geld ist international, Daten sind international, aber Menschen sollen es nicht sein?, so Wolfgang Fischer im Interview. Für ihn dreht sich „Styx“ vor allem um die Frage, wer wir sein wollen und wie wir leben wollen, Fischer glaubt an die Empathiemaschine Kino und er weiß sie zu bedienen.

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„Styx“ stellt mit Wucht, Unbehagen und Suspense die Gretchenfrage, wie wir es denn so haben mit der Menschenwürde. Ein handwerklich exzellenter Film, in dem jeder Frame und jeder Ton sitzt und der einen genauso sprachlos zurücklässt wie Rike. Roger. Over.
Publiziert am 22.11.2018