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The Good, The Bad & The Queen

Pennie Smith

ROBERT ROTIFER

Hostile Environment

Mit „Merrie Land“ haben The Good The Bad & The Queen das wesentliche Werk der Brexit-Ära hervorgebracht.

Von Robert Rotifer

Schon wieder Damon Albarn? Hatten wir mit dem nicht gerade erst über sein letztes Gorillaz-Album gesprochen? Aber wir erinnern uns, schon damals – im Sommer, wie lang der schon wieder her zu sein scheint – hat er uns für den Herbst das zweite Album von The Good, The Bad & The Queen versprochen. Der sogenannten „Super Group“, mit der er vor elf Jahren sein möglicherweise schönstes Album, eine schwermütige Liebeserklärung an seine Geburtsstadt London gemacht hatte (Ex-Fela-Kuti-Drummer Tony Allen, Ex-Clash-Bassist Paul Simonon und Simon Tong, der einmal bei The Verve spielte und heute mit Erland & The Carnival interessante Dinge macht).

Jetzt war es also plötzlich in meine Inbox gepurzelt, „Merrie Land“, das eigentlich nie geplante Zweitwerk, der Guten, der Bösen und der Königin, zusammen mit der Frage, ob ich Damon wieder treffen könnte. Übermorgen. In der Underground auf dem Weg zu Damons Arbeitsquartier fiel mir auf, dass ich heuer eigentlich mein 25. Albarn-Interview-Jubiläum begehe.

Ein Vierteljahrhundert, das umfasst Blur, Gorillaz, Mali Music, The Good, The Bad & The Queen, Soloalbum da, Oper dort. Und jedes Mal, wenn Damon mir seinen jüngsten Masterplan erklärte, hatte er sich überlegt, wie das in den kulturellen und politischen Kontext passte. Viele meiner (britischen) Kolleg_innen haben diese Erklärungen ja immer schon nervös gemacht, weil sie im Umkehrschluss dachten, dass Damon offenbar opportunistische Spiele mit dem Zeitgeist trieb. Während ich ja wiederum finde, dass gerade das Aufnehmen von Witterungen einen Pop-Künstler ausmacht.

Seit diesem Album und unserem Gespräch darüber sehe ich das alles anders.

Protokoll einer Panikattacke

Ich sehe Damon Albarn, zum ersten Mal in seinem Leben, als Passagier der Achterbahn, der nicht aussteigen, aber sehr überzeugende Lieder darüber singen kann, wie es ihm den Magen aushebt und er die Säure hochkommen spürt. Andersherum gesagt: Jene Brexit-Wähler_innen, die den politischen und kulturellen Eliten eins auswischen wollten, haben in seinem Fall voll ins Schwarze getroffen. Gute Arbeit, der umtriebigste, vielleicht sogar beste Songschreiber seiner Generation klang nicht einmal zu Zeiten seiner Heroin- und Beziehungskrise so verzweifelt wie hier. Seine größte Schwäche, die Selbstgefälligkeit, ist einem tiefen Selbsthass gewichen.

Merrie Land

Warner

So nannte er das jedenfalls wörtlich, als wir über den offensichtlichen Schlüsselsong auf „Merrie Land“, ein Besorgnis erregendes, hässlich schönes Stück namens „The Last Man To Leave“ sprachen. Kein Song eigentlich, sondern das nackte Protokoll einer Panikattacke, halb geseufzt, halb geschrien, halb gesungen (es ist eines dieser Lieder mit drei Hälften), verfasst nach der Rückkehr von einem Spaziergang zum „Offie“ („Off Licence“ - Geschäft, das unbegrenzt Alkohol verkaufen darf) auf der Suche nach mehr Vergessenswasser („vodka & ice“), scheinbar uneditiert, mit Textpassagen wie dieser hier, geschrieben direkt nach einem Schluck zu viel:

It was bitter and it burned the back of my throat
And now I’m losing control
The ability to speak
I’ll be the last man to leave
Don’t leave me now
Don’t leave me now
I’m pacing up and down the kitchen
Don’t leave me now
Don’t leave me now
I’m taking it personally

Weiter oben im selben Text findet sich eine Referenz an die Empire Windrush, das Schiff, das nach dem letzten Weltkrieg (gefolgt von vielen weiteren Schiffen und Flugzeugen) Untertanen der Königin aus den karibischen Kolonien zum Busfahren, Postausliefern, Straßenkehren und Krankenpflegen nach Britannien brachte:

The houses of joy and disappointment of the Windrush
Street sweepers leave your music
On the other side of the pavement
Because it sounds better over there
We don’t want you anymore

Erstaunlicherweise, erklärte mir Damon, hatte er diese Zeilen vor dem sogenannten Windrush-Skandal geschrieben (dem übrigens immer noch nicht wirklich bereinigten Skandal, dass nach Einführung einer „feindseligen Umgebung“ für „illegale Einwanderer“ Tausende in den Fünfzigern bis Siebzigern, oft als Kinder aus der Karibik nach Großbritannien gekommene Menschen von der Abschiebung bedroht sind).

„Eigentlich wollen wir nicht mehr mit dir leben“

Noch erstaunlichererweise sagte er mir, dass er sich in dem Text selbst mit diesen Straßenkehrern der Windrush-Generation identifiziere. Er ist der, der sich unerwünscht fühlt. Pfeif drauf, ich reproduziere hier einmal einen von Damons wirren Monologen, befreit von meinen erfolglosen Versuchen, seinen Wortschwall in Bahnen der Verständlichkeit zu lenken:

„Ich habe diese Zeile vor dieser ganzen Windrush-Geschichte geschrieben. Das war ich, als ich eines Abends sehr betrunken durch eine dieser Kopfsteinplaster-Hintergassen zu meinem Nachtsupermarkt ging. Mein Körper, also mein Selbsthass, folgte mir auf jedem Tritt. Ich gehe in diesem Text zurück bis in die Fünfzigerjahre, bis zu der ganzen Windrush-Sache. Und als ich über die Enttäuschung von Windrush schrieb, dachte ich in meinem angetrunkenen Zustand - es ist übrigens gut, dass diese Hintergassen ziemlich kurz sind, denn ich taumelte von einer Seite zur anderen, um mich aufrecht zu halten. Meine 50 Jahre alten Beine können nur eine gewisse Geschwindigkeit erreichen, haha -, jedenfalls dachte ich an meine Enttäuschung darüber, wie diese Gegend ihre Identität verloren hat, sie ist zu etwas ganz anderem geworden. Sie ist ein Produkt des Geldes in London. Auf eine gewisse Art stelle ich die Existenz von allem in Frage, einschließlich meiner eigenen. Sogar mehr als die der anderen.

Anm. zur Erklärung: Notting Hill und seine Ausläufer, also jener seither fast zu Tode gentrifizierte Teil West-Londons, in den Albarn in den späten Achtzigern, zuerst als Barkeeper im Portobello Hotel, dann als junger Popstar zog, war einst ein Slum, in dem sich in den Fünfzigerjahren die karibische Community niederließ.

Warum bin ich Teil dieser Sache? Ich rede nicht von mir selbst als ‚Damon Albarn‘, sondern als Teil des Körpers, der diese Kultur ausmacht. Denn was hier passiert, ist so eigenartig. Es ist so, als wären die Leute zu höflich zu sagen: ‚Eigentlich wollen wir mit dir nicht mehr leben.‘ So fühle ich mich jedenfalls. ‚Ihr wollt mich nicht wirklich mehr hier haben, oder? Leute wie mich...‘ Man könnte sagen: Ich bin in diesem Fall so wie die Windrush-Generation, denn die fühlen sich genau so.

Ich habe dieses Gefühl, seit ich 1979 mit meiner Familie von Ost-London nach Essex zog. Ich fühlte mich unwillkommen in bestimmten Teilen des Landes. Und nicht, weil ich sie nicht mag oder sie mich nicht. Es liegt daran, dass wir nicht dieselbe Sicht auf das Leben haben, und alles, was ich sagen kann, ist: ‚Könnt ihr uns nicht wenigstens eine Chance geben?‘ Und ich spreche hier jetzt ohnehin noch von den liberaleren Gemütern... ‚Könntet ihr uns bitte nicht vollkommen aus eurer Vision der Zukunft löschen? Denn, wenn es das ist, was ihr wollt: Ihr wollt den Musik- und Kunstunterricht in den Schulen loswerden. Ihr wollt unsere brillante Geschichte der kulturellen Intervention loswerden, ihr wollt buchstäblich jede Spur von uns aus diesem Land absaugen. Geht es darum beim Brexit?‘

Als Künstler kann ich mich damit nicht versöhnen. Aber es ist die Realität. Sie respektieren uns nicht. Aber wir werden unseren Platz am Tisch verlangen, um das zur Sprache zu bringen. Und der einfachste Weg, das zu tun, wäre, scheint mir, ein zweites Referendum abzuhalten. Ja, das ist ein gefährlicher Präzedenzfall [für die Demokratie], aber es zeigt sich, dass das erste Referendum das auch bereits war.“

Putsch der Spießer

In diesem - bei mehrmaligem Lesen immer schlüssiger werdenden - Zitat gibt es mindestens drei Stellen, aus denen man Albarn einen dicken Strick drehen könnte. Natürlich kann ein etablierter, reicher, weißer, älterer Mann wie er sein eigenes Gefühl des Ausgestoßenseins, seine Entfremdung von Brexit als dem ultimativen Putsch der Spießer und Philister nicht wehleidig mit der Realität der Windrush-Generation vergleichen. Aber es wäre unehrlich von mir, so zu tun, als verstünde ich nicht genau, was er meint.

Gerade die Tatsache, dass unseresgleichen eigentlich keinen Anspruch auf Selbstmitleid hat (weil wir trotz der emotionalen Aufgewühltheit ja nicht wirklich existentiell bedroht sind), erzeugt ja jenen Selbsthass. Und bei Albarn kommt noch eine Schicht dazu: Warum ist er selbst „Teil dieser Sache“? Selbst Teil der Gentrifizierungs-Brigade, gar nicht zu reden von seinem tiefen Schuldgefühl der Mitverantwortung als eines der Gesichter des Britpop, dessen Übersetzung in die britische Massenkultur – ein für Albarn und Co. sehr lukratives Missverständnis – rückblickend jene Geister wachrief, die später zum Brexit führten. Das übrigens ist eine Diskussion, die hier drüben gerade mit Verspätung, aber Leidenschaft geführt wird.

Man muss kein_e Analytiker_in sein, um im Nachhinein zu verstehen, dass Britpop, all das Union-Jack-Wedeln, all der zur Schau gestellte Antiamerikanismus des Damon Albarn damals vor 25 Jahren ein klassischer Fall von Überkompensation war. Eine Persona, die er, das Kind in der Academia von Essex eine Parallelexistenz führender Eltern, sich aneignete – als romantische Gegenthese zur unglaubwürdigen These des nivellierten, entpolitisierten, klassenlosen Britannien der Mainstream-Konsens-Ära zwischen John Major und Tony Blair (was für eine Erfrischung es war, damals mit Albarn über das Europa der Regionen zu streiten, während einem die Middle-Class-Shoegazer-Bands aus Oxford und Umgebung immer bloß erzählten, dass es im Grunde keinen Grund zur Beschwerde gebe).

Genau deshalb kam Albarns romantisierte Version eines mythischen Großbritannien in einem pervers attraktiven Zustand des Verfalls damals bei ebenfalls nicht dazugehörenden Anglophilen wie meinesgleichen so gut an. Und genau deshalb habe ich es als Ausländer heute auch leichter, mich desillusioniert vom hässlichen Brexitannien abzuputzen als Albarn, der sich selbst nur mit sehr viel Alkohol in seine Projektion des Einwanderers flüchten kann.

Because our love is lying on a fallow field
It’s the seed that you sow
That’s scattered with the fallen shields
Of a last crusade to save me from myself

(The Poison Tree)

The Good, The Bad & The Queen

Pennie Smith

In „Merrie Land“ steht Albarn vor den Scherben des britischen Wahns, hebt eine nach der anderen auf und hält sie ans Licht. Paul Simonons Reggae-Bass hält seine Zerfahrenheit zusammen, während Tony Allens polyrhythmisches Schlagzeug parallel dazu eine Gegendeutung anbietet (oder umgekehrt), Produzent Tony Visconti behält dabei die Nerven, erlaubt Damon Albarn ein gesundes Ausleben seines Bowie-Traumas, und Gitarrist Simon Tong füllt in der Zwischenzeit ein paar Spuren mit ziemlich guten Antworten auf die Frage „What would Syd Barrett do?“.

„Merrie Land“ ist das erste, vielleicht einzige wesentliche Album über Brexit bisher. Falls es sowas wie wesentliche Alben überhaupt noch geben kann.

Wer Damon Albarn verbal bzw. The Good, The Bad & The Queen musikalisch beim Rasen erleben will, kann heute in FM4 Connected meinen Beitrag hören. Oder meine Ausgabe von FM4 Heartbeat am Montag ab 22 Uhr. Ein Podcast ist auch in Planung.

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