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Armatur eines alten Autos

CC0 via Pexels

BUCH

Frühstück am Armaturenbrett

Doppelt so viele Menschen wie noch vor zehn Jahren leben heute in den USA in Autos. Der bittersüße Roman „Gun Love“ von Jennifer Clement führt in einen Trailerpark in Florida und erzählt von Obdachlosigkeit und Waffenkult.

Von Maria Motter

Siamesische Zwillingsalligatoren sind eine Sensation. Die Presse fährt vor im Nirgendwo von Florida, zu einem vergifteten Nebenfluss des St. Johns Rivers. Dass sich auf dem Besucherparkplatz eines Trailerparks ein Mädchen gerade ein Frühstücksbrot am Armaturenbrett eines Autos Baujahr 94 schmiert, bemerkt nur eine Reporterin. „‚Wohnst du hier?‘, fragte sie mit Blick auf die Rückbank.“ Die JournalistInnen packen bald zusammen. Um die Alligatorenbabys kümmern sich andere. Als das Mädchen mit dem Namen Pearle, klein wie ein Kobold und weiß wie eine Kugel Vanilleeis, mit seiner jungen Mutter wieder nach den Tieren sehen will, sind sie nicht mehr da. „Der weiße Sand, auf dem sie Tag zuvor gelegen hatten, war jetzt roter Sand. Nur ein kleines Häufchen Schuppen und Fleisch hing noch an einem blauen Faden.“

Buchcover von Jennifer Clements "Gun Love"

Suhrkamp Verlag

„Gun Love“ von Jennifer Clement ist 2018 in der deutschsprachigen Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner bei Suhrkamp erschienen.

„Gun Love“ ist der neue Roman von Jennifer Clement und er beginnt wie ein surreales Märchen. Der bittersüße und exzellente Roman wächst zur poetischen und doch präzise realistischen Beschreibung gesellschaftlicher Realität in Trumps Amerika an: Da lebt ein Mädchen mit seiner Mutter in einem Auto, seit es wenige Tage alt war. Wenn es so stark regnet, dass der Boden all das Wasser nicht mehr aufnehmen kann, träumt Pearle nicht von einem Haus, sondern von Möbeln. Die Mutter putzt im Veteranenkrankenhaus. Ihre Nachbarn haben sich Wohnmobile eingerichtet, mit Plastikgremlin und -flamingos davor, und sie tragen Schusswaffen wie Socken und BHs. Nachbarin Rose hat eine rosarote. „Rose sagte, wenn du erst mal eine Pistole hast, ist deine Körpertemperatur immer leicht erhöht.“

Die Fiktion und ihre Fakten

Die Anzahl jener US-Amerikaner, die in Autos wohnen, hat sich im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Offizielle Zahlen, wie viele der obdachlosen Menschen in den USA so leben, gibt es nicht. Das US Department of Housing und Urban Development führt in seiner landesweiten Statistik 192.875 Obdachlose für das Jahr 2017. Allein im Großraum Los Angeles leben 15.000 Menschen in geparkten Fahrzeugen. Neben finanzieller Armut ist eine der Ursachen der Obdachlosigkeit auch der Mangel an sozialen Wohnbauten - der auf die Ära Ronald Reagans zurückgeht.

Ein landesweites Gesetz, das den Menschen diese „vehical residency“ verbietet, gibt es zwar nicht, doch Städte wie Palo Alto erließen eigene Verbote. Geschäfte und sogar Kirchen machen gegen Obdachlose mobil - Sitzgelegenheiten sucht man in San Francisco im öffentlichen Raum und im Starbucks lange. In den USA gibt es mehr Waffengeschäfte als Coffeeshops. Und aus der Statistik erfährt man: Alle 16 Stunden wird eine Frau von ihrem Partner oder einem Ex-Partner erschossen. In keinem Bundesstaat gibt es mehr Wohnwagensiedlungen als in Florida, wo zudem auch die meisten „Concealed Weapon“-Genehmigungen ausgestellt werden, mit denen man in der Öffentlichkeit verdeckt Waffen tragen darf.

Der abschätzigen Bezeichnung „White Trash“ stellt die Schriftstellerin Jennifer Clement ein Kind entgegen, das noch zum Racheengel mutieren wird. So wunderschön verträumt viele Passagen anmuten, Clement verliert die Realität nie aus dem Blick. 1960 in Connecticut geboren, zog sie vor Jahren nach Mexico City. Aktuell ist sie die Vorsitzende des internationalen Autorenverbandes PEN.

Für „Gun Love“ hat sie ebenso ausgiebig recherchiert wie für ihren Roman „Gebete für die Vermissten“, der im Milieu mexikanischer Drogenkartelle spielt. Über die Grenze, die sich knapp über 3000 Kilometer zwischen den USA und Mexiko erstreckt und die jährlich von 250 Millionen Menschen passiert wird, führt schließlich auch „Gun Love“. Die Schriftstellerin betrachtet beide Werke als ein literarisches Diptychon. Hat man eins gelesen, will man das andere auch lesen.

Wie „Gun Love“ mit den Mitteln der Poesie die Perversion der „Gun Culture“ vorführt, ist außergewöhnlich und zudem absolut leserfreundlich. Aus kindlicher Perspektive und im aufgeweckten Plauderton stolpert man unversehens von einem Ausflug zu den nahen Sümpfen in ein Wohnmobil voll Waffen. Pearles junge Mutter kennt alle Liebeslieder. Sie spielt Mozart als Fingerübung auf dem Armaturenbrett und spricht die schönsten Aphorismen wie nebenbei aus. „In der Kirche wanderte ihr Blick durch die Reihen, dann beugte sie sich zu mir und flüsterte, Pearl, Schatz, all diese Menschen hier haben Angst zu sterben.“ Entzückend ist diese Weltsicht der Mutter. Liebevoll hat Jennifer Clement die Charaktere der Zufallsgemeinschaft im Trailerpark ausgestattet. Es sind nicht die Reptilien, die ihre Mäuler aufreißen werden. Das TIME Magazine reiht „Gun Love“ unter die 10 besten Romane des Jahres. Mit Recht!

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