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"Roma" Filmstill

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FILM

Stille Sensation

Eine Woche war er im Kino zu sehen, jetzt kann man den bildgewaltigsten Film des Jahres nur mehr streamen: Mit „Roma“ ist Alfonso Cuarón ein echtes Meisterwerk gelungen.

Von Christian Fuchs

Moment mal, ein leises, subtil erzähltes Sozialdrama? Von einem Regisseur, der zuvor mit dem Weltraumepos „Gravity“ vor allem auf der visuellen Ebene beeindruckte? Und der auch für einen Teil der Harry-Potter-Reihe verantwortlich zeichnet? Stimmt schon, Alfonso Cuarón hat vor seinem Hollywood-Durchbruch in seiner Heimat Mexiko auch sensible Coming-of-Age-Streifen wie „Y tu mamá también“ gedreht. Trotzdem: Eine Familiensaga mit autobiografischen Zügen, in kontrastreichem Schwarzweiß, dass hätte wohl nicht nur der Schreiber dieser Zeilen von Cuarón nicht erwartet.

Die sehr gute Nachricht: „Roma“ übertrifft sämtliche Erwartungen. Der Film rund um die Hausangestellte Cleo, die in Mexico City Anfang der 70er für eine Mittelklasse-Familie arbeitet, ist Alfonso Cuaróns Meisterwerk geworden. Mehr noch - Achtung, Superlative: „Roma“ erinnert an große Meilensteine der Filmgeschichte, an die künstlerische Klasse eines Luchino Visconti, Federico Fellini oder Francois Truffaut.

szenenbild aus "roma"

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Intim und brachial zugleich

Dabei beginnt alles ganz langsam und still, mit einem ganz normalen Morgen im Haushalt einer gutbürgerlichen Arztfamilie. Cleo, fantastisch gespielt von Yalitza Aparicio, entfernt die Hundehaufen, die den Innenhof bedecken, weckt die Kinder, macht das Frühstück. Das indigene Hausmädchen ist das, was man in bürgerlichen Kreisen wohl einen „guten Geist“ nennt. Fast gehört die junge Frau zur Familie. Aber nur fast.

Von Anfang an bricht Alfonso Cuarón die scheinbare bourgeoise Idylle, trotz oder gerade weil der Film auch von seiner eigenen Kindheit erzählt. Minutiös schildert er, oft nur in kleinen unauffälligen Szenen, den Klassenunterschied, die unüberbrückbare Kluft zwischen Cleo und ihren Brötchengebern herrscht. Aber auch innerhalb der Familie gibt es distanzierte Verhältnisse. Die Beziehung zwischen dem wortkargen Dr. Antonio (Fernando Grediaga) und seiner frustrierten Frau Sofía (Marina de Tavira) bröckelt durch die langen Abwesenheiten des Mannes.

Szenenbild aus "Roma"

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Das klingt nach ganz normalem dysfunktionalem Familienepos? Alleine wie Cuarón nur die heißersehnte nächtliche Heimkehr des Ärztepapas inszeniert, der sich mit seinem riesigen 70er-Schlitten in die viel zu enge Einfahrt zwängt, ist schon sehr speziell. Immer wieder verknüpft der Film Persönliches und Politisches, findet für die Entfremdung seiner Figuren Bilder und Metaphern, die faszinieren.

In 135 Minuten, von denen keine einzige langweilig ist, gelingt Alfonso Cuarón schließlich das Unglaubliche. „Roma“ vereint Augenblicke absoluter Intimität, in denen die Kamera ganz nah an Gesichter und Szenarien herangeht, mit brachialen, epischen und überwältigenden Momenten. Eine lange Einstellung, in denen das Corpus Christi Massaker von 1971 thematisiert wird, brennt sich besonders in die Erinnerung ein. Wie Alfonso Cuarón, der neben Regie und Drehbuch auch für die Kamera verantwortlich zeichnet, hier die Darstellermassen choreografiert, lässt den Atem stocken.

Filmstill aus Roma

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Kinoepos für die Streaming-Crowd

Aber auch solche Straßenaufnahmen wie in „Roma“, in denen das Menschengewimmel im pulsierenden Mexiko City der 70er Jahre den Bildrand bis zum Bersten ausfüllt, hat man selten gesehen. Ganz langsam zieht einen der Film in diese vergangene Ära und in den Alltag von Cleo hinein, zelebriert die Humanität und weibliche Solidarität, bis irgendwann Gänsehaut aufkommt und am Ende vielleicht auch Tränen die Wangen herunterrollen.

Die bittere Ironie dabei: Der extrem eindrucksstarke Streifen, der nach einer riesigen Leinwand schreit, lief neben gefeierten Viennale-Vorstellungen gerade mal eben eine Woche in ausgewählten Kinos. Und letzteres verdankt sich nur engagierten Arthouse-Betreibern.

Denn „Roma“ wurde ausgerechnet von Netflix produziert. Was zwar einerseits maximale künstlerische Freiheit und die Finanzierung ungewöhnlicher Stoffe garantiert. Auf der anderen Seite gehört der Film damit exklusiv der Streaming-Crowd. Ob sich dieses Meisterwerk, das sich für seine präzisen Menschenbeobachtungen alle Zeit der Welt nimmt, auch im Patschenkino halbwegs entfalten kann? Man kann es nur hoffen.

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