FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Obdachlosenbehausung im Eingang der leeren Poundworld-Filiale, Canterbury.

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

BreXmas ’18

Der Brexit-Witz ist nicht mehr lustig. Über Weihnachten 2018 in England hängt eine Vorahnung auf etwas unkontrollierbar Gefährliches.

Von Robert Rotifer

Zwei Wochen war ich in Wien gewesen, hatte aus der Ferne die in meiner Wahlheimat vollführten politischen Tänze mitverfolgt. Wilde Verrenkungen, linkische Drehungen und bizarre Gesten, vom gescheiterten Misstrauensvotum innerhalb der konservativen Fraktion gegen die eigene Chefin über die von selbiger in einer schamlosen Erpressung des Parlaments bis an die Deadline im Jänner verschobene Abstimmung im Unterhaus, bis hin zu dem absurden Schauspiel des Fraktionskampfs innerhalb der Labour Party rund um die richtige Gegenstrategie, wobei die sogenannte Parteilinke sich selbst und ihrem Messias Jeremy Corbyn zu dem taktischen Meisterstück gratulierte, keinen Misstrauensantrag gegen die Regierung gestellt und somit die Konservativen in ihrem Prozess der Selbstzerstörung nicht behindert zu haben.

Als schließlich der Zentrist Chuka Umunna die Konservativen als eine zur Abwahl reife „shower“ angriff und der Chef der Labour-internen linken Momentum-Tendenz Jon Lansmann ebendies postwendend als Verrat an der eigenen Parteiführung wertete, gab ich jeden Versuch auf, den Geschehnissen von Wien aus hinterher zu bloggen.

Dann, nach der Rückkehr nach England so gegen Ende letzter Woche, verschlug es sie, die mich abholte (dankbar!) und mich auf dem Weg von einem damals noch Drohnen-freien Flughafen Gatwick zurück nach Hause in die Finsternis sich windender Landstraßen, gesäumt von Bäumen, die im Schein des Fernlichts aussahen wie japanische Scherenschnitte.

So romantisch das war, der Grund für die vielen Umleitungen waren natürlich wieder einmal die Baustellen auf allen Autobahnen in Richtung Küste zwecks später Vorbereitung auf den für Ende März zu befürchtenden Dauer-LKW-Stau. Das große, nationale Einigeln auf der Fahrt gegen die Wand, mit Ziegelstein auf dem Gaspedal.

Brexitannien - der weltgrößte Einkäufer von Kühlschränken

Ich weiß ja nicht, ob nun zwei oder vier Milliarden Pfund vom Staat für die Vorbereitung auf die harte Landung freigemacht wurden (man hört beides). Jedenfalls sind 3500 Soldat_innen bereitgestellt, um im Fall eventueller Bürgerkriegszustände für Ordnung zu sorgen, der Gesundheitsminister rühmt sich, der derzeit weltweit größte Käufer von Kühlschränken zu sein, da das Gesundheitssystem zur Sicherheit Medikamente hortet, und darüber hinaus stellt sich die Regierung auf einen erwarteten sprunghaften Anstieg von Selbstmorden ein.

Alles aus Respekt für den 2016 erhobenen, unverrückbaren Willen des Volkes, den man besser nicht noch einmal abfragen sollte, weil sonst, so heißt es, ja die enttäuschten Rechtsextremen rabiat werden könnten. Dies wiederum lässt sich, wie man überall in Europa aus guter Erfahrung weiß, nur verhindern, indem man ihnen so weit wie möglich zuvorkommt. Dann werden sie handzahm und verschwinden wieder in ihren Löchern. Oder verwandeln sich in rechtschaffene Bürger_innen mit legitimen Besorgnissen.

Handpuppen von Boris Johnson, Theresa May und Jeremy Corbyn

Robert Rotifer

Ich geb es ungern zu, aber es war mir schlicht zu deprimierend, all das, was da täglich auf einen herein prasselt, hier auch noch niederzuschreiben. Vorgestern dann verschlug es mich aus zum Erklären zu komplizierten Gründen ins Haus einer älteren Dame namens Mary in Faversham, Kent, und die erklärte mir, dass sie bereits begonnen habe, Nahrungsmittel in Dosen zu hamstern: „Aber das wirklich Schlimme wird sein, dass wir kein Benzin und kein Gas haben werden, und das kann ich nirgends aufbewahren.“ Mary ist genau die Sorte Wählerin, die sich eigentlich von Theresa May vertreten fühlen sollte, ja vermutlich hat sie, wie in diesem Teil des Landes unter Menschen ohne spezielle politische Interessen üblich, bisher immer die Conservatives gewählt - als die Partei, die dem Namen nach dafür sorgt, dass alles so bleibt, wie es ist. Und ich vermute, das völlige Zusammenbrechen dieses Weltbilds erschüttert Mary im Innern noch weit mehr als die Sache mit den Hamsterkäufen.

In der jungen, puristisch-progressiven Londoner Blase gilt es ja schon als unvergebliche Sünde, mit Tory-Wähler_innen überhaupt zu kommunizieren, schließlich haben die jene Austerität mit zu verantworten, die so viele Menschen in die Food Banks getrieben hat. Aber die offizielle Message an das mythische Middle England, die Mitte der Gesellschaft, war ja immer gewesen, dass hinter der konservativen Sparpolitik eine höhere Vernunft, ein moralisches Verantwortungsgefühl gegenüber künftigen Generationen stünde.

Ich glaube ja, in der Fassungslosigkeit der diesem Versprechen auf den Leim Gegangenen, die nun zusehen müssen, wie eine von ihnen gewählte Regierung die Reste des Wohlstands mit religiösem Eifer dem nationalistischen bzw. Free-Market-fundamentalistischen Fetisch Brexit opfert, bietet sich eine Möglichkeit, zwischenzeitlich ganz neue Mehrheiten zu schaffen.

Schließlich würde einer aktuellen Umfrage zufolge bei einem neuen Referendum, dessen Abhaltung nun bereits 64 Prozent der Befragten befürworten, „Remain“ eine Mehrheit von 11 Prozent erzielen. Und das geht sich ohne (frühere) Tory-Wähler_innen rein rechnerisch nicht aus. Aber auch nicht ohne jenes Drittel von Labour-Wähler_innen, die in den letzten zwei Jahren von der „Leave“ auf die „Remain“-Seite gewechselt sind (insgesamt steht der Remain-Anteil unter Labour-Sympathisant_innen derzeit bei 72%).

Alle diese Menschen stieß Labour-Chef Jeremy Corbyn am Freitag in seinem Interview mit dem Guardian vor den Kopf. Nicht nur, dass er es trotz der drohenden No Deal-Katastrophe weiterhin vorzieht, statt eines zweiten Referendums Neuwahlen zu verlangen. Falls er diese gewinnt, sagt er, wolle er „go forward“ (sprich: den Brexit durchziehen) und mit der EU „eine Zollunion“ (im Unterschied zur Mitgliedschaft bei der bestehenden, europäischen Zollunion) ausverhandeln. Ein Verbleiben im Binnenmarkt bzw. der EU lehnt er wegen der Beschränkungen staatlicher Beihilfen ab. Ganz ungeachtet der Umstände, dass sich a) sein Plan kaum mit der laufenden Deadline des 29.3. vereinbaren ließe und b) ihm die Kolleg_innen von der Labour-Fraktion in Brüssel schon seit langem begreiflich zu machen versuchen, dass er seine diversen Rückverstaatlichungspläne mit etwas Geschick auch unter bestehenden Regeln durchsetzen könnte.

Aber um all das geht’s hier vermutlich gar nicht. Die unter frustrierten Remainers als Fakt gehandelte Theorie geht vielmehr so: Corbyn weiß genau, dass er keine Neuwahlen kriegt, will aber auch kein zweites Referendum, weil Labour dann einen klaren Standpunkt einnehmen müsste und seine zentristischen parteiinternen Rival_innen die überzeugteren und überzeugenderen Remainers sind (obwohl auch sie nicht das Konzept der gegenseitigen Bewegungsfreiheit zu verstehen scheinen, aber lassen wir das einmal beiseite).

Besser also für Corbyn, Theresa May und die Tories in eine „No Deal“-Katastrophe stolpern zu lassen, die sie auf mittlere Sicht unwählbar machen sollte. Und auf der Asche des Desasters, so das Wunschdenken, fängt Labour dann mit einem radikalen Programm ganz von vorne an. Ein bisschen so wie Clement Attlee nach dem Krieg.

In Anspielung auf den Desaster-Kapitalismus der Ayn Rand-Fraktion unter den Konservativen (Jacob Rees-Mogg, Priti Patel, neuerdings auch Außenminister Jeremy Hunt und andere) sprechen viele bereits von Corbyns „Desaster-Sozialismus“, Veteran_innen der alten Linken werden in seiner Taktik aber auch Spuren der Verelendungstheorie wiederfinden, samt der fixen Idee, dass sich das verelendete Volk dann nicht etwa den Rechtspopulist_innen/Neo-Faschist_innen, sondern in einem Moment der massenhaften Erkenntnis der erlösenden Labour Party an die Brust werfen wird.

Desaster-Kapitalismus versus Desaster-Sozialismus

Der unappetitlichste Aspekt an solchen Strategien war immer schon das zynische Inkaufnehmen des Leids jener, die aus der Verelendung ihre revolutionären Energien schöpfen sollen. Und das ist vielleicht das Unverzeihlichste an der Tragödie Brexit – nebst dem Spiel mit der Xenophobie, all den Lügen und dem schulterzuckenden Im-Stich-Lassen der Brit_innen im EU-Ausland:

Auf beiden Seiten des Unterhauses dominieren Kräfte, die bereit sind, für ihre ideologischen Ziele ihr eigenes, systematisch desinformiertes Volk zu verarmen. Und das noch dazu zu einer Zeit, da die traditionell in Klassen gespaltene britische Gesellschaft nach achteinhalb Jahren Sparpolitik ohnehin bereits ernsthaft zu zerfallen droht.

Mitte November präsentierte Philip Alston, der Sonderberichterstatter der UNO für extreme Armut und Menschenrechte, seinen ersten Eindruck einer zweiwöchigen Rundreise durch das Großbritannien der Austeritäts-Ära. Er erklärte die explodierende Kinderarmut, die auf Kurs ist, bis 2022 auf 40 (!) Prozent zu steigen, „nicht bloß als eine Schande, sondern einen sozialen Notfall und ein ökonomisches Desaster“. Die relative Armut eines Fünftels der Bevölkerung und die absolute Armut von 1,5 Millionen Menschen in Großbritannien sei Produkt „einer politischen Entscheidung“ einer Regierung, die gleichzeitig nach unten kürzt und nach oben Steuersenkungen verteilt. Die Menschen mit Behinderung und Frauen systematisch benachteiligt und mit ihrem „engherzigen Zugang großes Elend über ihre Bevölkerung" gebracht habe - ein „offenkundiges Unrecht“, das die Struktur der Gesellschaft schädige.

Natürlich zeigte Amber Rudd, die nach ihrem Rücktritt wegen des Windrush-Skandals als für Sozialhilfe zuständige Work & Pensions Secretary wieder ins Kabinett zurückgekehrt ist, sich schwer „enttäuscht über die außergewöhnlich politische Sprache" des Reports.

Aber jeder/m, die/der etwa des Abends durch die Straßen meiner immer noch wohlhabenden Stadt Canterbury geht, würden noch ganz andere Wörter dazu einfallen, was da zu sehen ist:

Obdachlosenbehausung im Eingang der leeren Poundworld-Filiale, Canterbury.

Robert Rotifer

Die Kartonbehausung vor den Glastüren der heuer – wie so viele andere Geschäfte in der High Street – dem Sinken der Kaufkraft ihrer Kundschaft zum Opfer gefallenen Filiale des Diskonters Poundworld, direkt neben dem luxuriösen Abode-Hotel. Die frierenden Gestalten in Schlafsäcken in den Unterführungen unterhalb der Ring Road. Ältere weiße Männer der gar nicht so privilegierten Sorte, die sich im Hauseingang von Marks & Spencer versammeln und dort jeden Abend ein improvisiertes kleines Pappendeckel-Dörfchen errichten. Als ich das letzte Mal vorbei ging, spielten sie aus einem tragbaren Speaker „Brothers in Arms“ von Dire Straits, einen Song, den ich nie wieder mit denselben zynischen Ohren hören können werde.

Zu Anfang des Advents, noch vor meiner Wien-Reise, ging ich zum Milchkaufen in den Supermarkt Tesco. Da drückte mir ein junger Mann lächelnd einen Zettel in die Hand: Eine Einkaufsliste für Dinge, die die örtliche Food Bank zur Ausspeisung ihrer hungrigen Kunden gebrauchen könnte. „Gemüse aus der Dose, Dosensuppe, Dosenbohnen, Dosenfleisch, Dosenfisch, Nudeln, Reis, gesunde Snacks, Haltbarmilch, Tee, Kaffee, Marmelade und Aufstriche.“

Einkaufsliste für Essenspenden

Robert Rotifer

Bald danach fand ich mich mit zwei jungen Frauen, die denselben Zettel in der Hand hatten, vor der Dosenabteilung wieder, und wir schämten uns voreinander für unsere Versuchung, nach den billigsten Bohnen zu greifen. Aber gleichzeitig stieg in mir auch der Zorn auf.

Über die Tatsache, dass in einem Land wie Großbritannien so großer Bedarf für Nahrungsmittelspenden besteht, aber auch über die Heuchelei so einer Aktion vor Weihnachten und die süßen Schneeflöckchen und Goldsternchen auf der Einkaufsliste. Und natürlich das Wissen, dass diejenigen, die am meisten zu geben hätten (bzw. mehr Steuern zahlen könnten), ganz sicher nicht bei Tesco einkaufen gehen.
Auch daran musste ich wieder denken, als Mary aus Faversham mir neulich über die Dosen erzählte, die sie für den Fall eines harten Brexit hamstert.

Sammelbox im Tesco-Supermarkt

Robert Rotifer

Im Verlauf der letzten zwei, drei Jahre sah ich den Brexit zunächst als befremdendes Ereignis, dann als persönliche Bedrohung, dann als absurdes Theater und schließlich als unfreiwillige Komödie. Das hat jetzt aufgehört. Die Witze sind nicht mehr lustig, der Spaß ist vorbei. Über Weihnachten 2018 in England hängt eine Vorahnung auf etwas unkontrollierbar Gefährliches.

Buchempfehlung:
„Middle England“, der große Brexit-Roman von Jonathan Coe, Penguin.

Middle England, Buchcover

Robert Rotifer

Vorgestern saß mir der Kirch-gehende, als Hobby Marmelade machende, mit einer eingebürgerten Polin verheirate, grundbieder liebenswerte Vater einer Schulkollegin unserer Tochter bei einem vorweihnachtlichen Besuch an unserem Küchentisch gegenüber und sagte mit starrem Blick in Richtung Kühlschrank diesen Satz, den ich in den letzten zwei Jahren schon so oft gehört habe: „Das ist nicht mehr mein Land, ich erkenne es nicht wieder.“

Gestern kam er wieder vorbei und zeigte mir einen Brief, den er an Jeremy Corbyn geschrieben hatte: Warum er als „moderater“ Mensch wegen dessen Brexit-Politik nun nicht mehr Labour wählen könne. Ich hatte ja nicht vermutet, dass er das bisher getan hätte (mein Vorurteil). Ich sagte ihm, dass ich seinen Brief verstehe, aber nicht glaube, dass er damit den Standpunkt von irgendjemand in Corbyns Umkreis verändern würde. Im Gegenteil, diese Leute sähen sich vermutlich bloß noch bestätigt, wenn ein „moderater“ Bourgeois aus Canterbury den Brexit nicht als revolutionäre Chance sieht.

„Ja, das weiß ich“, sagt er, „aber wir müssen was sagen.“

Ein frohes Fest aus der englischen Einschicht, alles wird gut.

Aktuell: