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"We're digging in the past"

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Der fettgedruckte Weg in den Abgrund

2019 wird für Großbritannien ein dramatisches Jahr der Entscheidung. Die Bildergeschichte eines sich über fünf Jahre annähernden Desasters, erzählt in Headlines.

Von Robert Rotifer

Es gäbe ja so viele aufgelegte Stories hier gerade: Vom drohenden Ende der letzten überlebenden Megastore-Kette HMV (stellt sich heraus, vielleicht war doch nicht das Streamen schuld, sondern eher die Asset-Stripper) über das jüngste Video des Home Office, in dem EU-Bürger_innen zur Registrierung aufgefordert werden (unter dem rechtswidrigen Zwang, dem britischen Staat ihre Daten zum Verkauf an Dritte freizugeben), die Fähren, die die britische Regierung um umgerechnet 120 Millionen Euro gechartert hat, um Ende März die schlimmsten Auswirkungen eines harten Brexit abzufedern, oder die vorwiegend iranischen Asylsuchenden, die per Boot aus Frankreich kommen. Gerade einmal 200 auf dieser Route Angekommene wurden in den letzten zwei Monaten verzeichnet, aber Innenminister Sajid Javid und Verteidigungsminister Gavin Williamson reden einen nationalen Ernstfall herbei, um sich damit ziemlich durchsichtig für die Nachfolge von Theresa May zu positionieren.

Aber ich lass das jetzt alles beiseite, denn das Datum ruft zum Rückblicken, und in diesem Fall zahlt sich das auch wirklich aus. Wie immer es ausgeht, das kommende wird für Großbritannien ein politisch hochdramatisches Jahr werden, egal, ob es nun wirklich den No-Deal-Notfall oder ein neues Referendum oder doch noch Theresa Mays Übergangs-Deal geben wird. Um zu verstehen, wie es je so weit kommen konnte, muss die Rückblende wesentlich weiter zurückgehen als bloß ein Jahr.

Bei der Frage, wie sich all das am besten erzählen lässt, blieb ich im „Photos“-Ordner auf meiner Festplatte hängen. Seit Jahren fotografiere ich nun schon scheinbar sinnlos die irrsinnigsten Titelseiten der britischen Tagespresse und die schönsten Blüten meiner Lokalzeitung ab, wann immer ich Croissants, Nudeln, Wein oder Milch einkaufen gehe. All die Dummheit, den Hass, die Heuchelei. Und so mächtig soziale Medien sein mögen, die meisten dieser altmodisch gedruckten Machwerke des Grafiker- und Journalistengewerbes hatten einen konkreten Einfluss auf die Handlungen der britischen Politiker_innen. Alle bedeuteten ein kleines Schrittchen oder einen großen Schritt auf dem Weg ins Desaster, von einer Welt, in der sich in Großbritannien außer einem Haufen Besessener am rechten Rand kaum jemand für Europa als Thema interessierte, über Konvulsionen neo-nationalistischen Eifers und Kriegs-Nostalgie bis zum heutigen Zustand der kompletten politischen Lähmung im Angesicht der drohenden Deadline am 29. März 2019.

Titelseite The Sun 18 12 13 "Draw a red line on immigration or else"

Robert Rotifer

Beginnen wir, weil wir irgendwo müssen, am 18. Dezember 2013, das Wort Brexit ist noch lange nicht erfunden, da sehe ich eine Drohung an Premierminister David Cameron auf dem Titelblatt von The Sun, die aus rückblickender Perspektive so vielem vorausgreift: „Als der Premierminister zu einem Treffen mit EU-Führern fährt, sagt ihr ihm: Zieh eine rote Linie in Sachen Einwanderung, sonst gibt’s was!“

UKIP Flugblatt "Take Back Control" vom Mai 2014

Robert Rotifer

14.5.2014, eine Woche vor den Europa-Wahlen, finde ich in meinem Briefkasten ein Flugblatt von UKIP. Darauf lese ich zum ersten Mal den zwei Jahre später Geschichte machenden Slogan der „Leave“-Kampagne: „Take Back Control“. Im Nachhinein erstaunlich, wie erfolgreich die konservativen Brexiteers UKIP die Kleider stehlen und die Parole wörtlich für sich vereinnahmen konnten. Von Boris Johnson bis Theresa May.

Seite 2 desselben Flugblatts

Robert Rotifer

Auf Seite 2 des Postwurfs ist bereits von 55 Millionen Pfund die Rede, die Großbritannien angeblich jeden Tag an die EU schickt. Eine frühe Version der berühmten Lüge, die die offizielle „Leave“-Kampagne zwei Jahre später in fetten Lettern auf ihren roten Kampagnenbus schreiben wird: Raus aus der EU bedeutet 350 Millionen Pfund pro Woche für das nationale Gesundheitssystem.

Aus der Kentish Gazette vom 15.8. 2014

Robert Rotifer

Kentish Gazette, 15.8.2014: In der Zwischenzeit haben die Feiern zum 100. Jubiläum des Ersten Weltkrieg begonnen, eine heroische Erzählung britischer nationaler Opferbereitschaft auf einem feindseligen Kontinent, die über die kommenden vier Jahre wie ein ständiges Summen im Ohr der Öffentlichkeit verweilen wird. Die Lokalzeitung bewirbt den „War Fair“ als einen idealen Ausflug für junge Buben.

Aus der Kentish Gazette vom 15.8. 2014

Robert Rotifer

Alles natürlich bloß ein Kinderspiel, und nur ein völlig paranoider Ausländer wie ich würde sich fragen, was da eigentlich los ist.

Aus der Kentish Gazette vom 15.8. 2014

Robert Rotifer

Wie gesagt, alles nur Einbildung.

Aus der Kentish Gazette vom 15.8. 2014

Robert Rotifer

Völlig normal in jedem friedlichen Land.

Metro Cover 18.9.2014

Robert Rotifer

Die Gratiszeitung Metro tönt am 8.9.2014: „Nein, wir werden uns das Pfund NICHT teilen.“ Das schottische Unabhängigkeitsreferendum wirft seine Schatten voraus und Schatzkanzler George Osborne beginnt, jenes antischottische Sentiment zu schüren, das seiner Partei helfen wird, die Wahlen 2015 zu gewinnen.

Titelseite der Daily Mail vor dem Schottland Referendum 2014

Robert Rotifer

Die Daily Mail übersetzt das in eine nationale Paranoia – „Angst der Königin vor einer Auflösung Britanniens“ –, die sie nahtlos in den Wahlkampf 2015 und die Brexit-Kampagne 2016 mitnehmen wird (mitsamt der Ironie, dass nichts so sehr den Zusammenhalt Großbritanniens riskiert wie ein harter Brexit).

Daily Telegraph im November 2014

Robert Rotifer

28.11.2014: Premierminister Cameron reagiert auf die bei den Europa-Wahlen offensichtlich gewordene, wachsende Bedrohung durch die fremdenfeindliche UKIP: „Ich bin bereit, Britannien aus Europa hinaus zu führen, wenn die Zuwanderungsreformen versagen.“ Er vermengt einen Appell an xenophobe Instinkte mit der Aussicht auf einen Austritt aus der Union und legitimiert damit genau jene Logik, die ihn zwei Jahre später die Volksabstimmung kosten wird.

Daily Mirror: What About British Workers?

Robert Rotifer

Am selben Tag veröffentlicht der Labour-nahe Daily Mirror, der später als einziges Boulevard-Blatt für „Remain“ eintreten wird, eine Enthüllung über angebliche Bevorzugung polnischer Arbeitskräfte mit der Überschrift: „Und was ist mit den britischen Arbeitern?“ Auch aus diesem Opfermythos wird sich der Brexit nähren.

"Save Our Bacon", The Sun am 6.5. 2015

Robert Rotifer

6.5.2015: Zwei Tage vor den Unterhauswahlen bedient sich die größte britische Tageszeitung kaum kodiert des Antisemitismus und warnt vor dem jüdisch-marxistischen Dämon Ed Miliband, der „aus einem hilflosen Sandwich ein Schweineohr“ macht: „Rettet unseren Speck.“

Daily Telegraph droht mit Verfassungs-Chaos

Robert Rotifer

Der Daily Telegraph dagegen droht mit dem Verfassungs-Chaos, falls die Rasselbande der mit winkenden Kindern abgebildeten schottischen Nationalistin Nicola Sturgeon in Koalition mit Ed Milibands Labour an die Regierung käme. Der so lang taktisch tabuisierte innerbritische England-Nationalismus ist titelseitentauglich. Er wird David Cameron aus der Koalition an die alleinige Macht führen. Und weil er diesen Sieg der Parteirechten verdankt, bekommt die zur Belohnung ihr versprochenes Austritts-Referendum.

Der Sunday Express 2015 auf dem Kriegspfad gegen Migranten

Robert Rotifer

Sunday Express, am 17.5.2015: „UK-Truppen werden den Migranten-Handel zerschlagen“ – die britische Presse als rechtsextreme Avantgarde kommt den kontinentalen Populist_innen zuvor.

Daily Mail Cover: Who Will Speak For England?

Robert Rotifer

Am 4.2.2016 sieht die Daily Mail England von David Cameron in den Verhandlungen in Brüssel verraten und fordert in ihrem Titel-Kommentar offen einen Austritt aus der EU. Die Überschrift dazu zitiert die berühmte Rede des Abgeordneten Leo Amery gegen die Appeasement-Politik von Premier Neville Chamberlain im Jahr 1939. Will heißen: Camerons Kompromisse mit der EU entsprechen Chamberlains Friedens-Abkommen mit Nazi-Deutschland. „Und unter England“, schreibt die Mail, „verstehen wir natürlich das ganze Vereinigte Königreich.“ Die Schott_innen, Waliser_innen und Nordir_innen verstanden das auch. Nur zu gut.

Der Name des auf der Titelseite beworbenen Leser_innen-Quiz „Play our £1million Deal or No Deal game“ hat zu diesem Zeitpunkt noch keinen bitter ironischen Nachgeschmack.

The Sun und der "Great Migrant Con"

Robert Rotifer

16.2.2016: Die Anti-Einwander_innen-Propaganda-Maschine kommt in Schwung: „Der große Migranten-Schwindel“ titelt The Sun. „Regierungs-‚Vertuschungs‘-Zorn“ und „Zahlen sagen, 257.000 kamen aus der EU“, aber „630.000 registrierten sich 2015 zur Arbeit“. Die EU-Bewegungsfreiheit wird zur Bedrohung für Britannien umdefiniert. Vier Tage später verlautbart David Cameron das Datum für das EU-Austrittsreferendum: den 23. Juni. Vier Monate hat er sich gelassen, um das Land, seine Partei und Regierungskolleg_innen vom Verbleib in der EU zu überzeugen.

Mail: "Staggering Number of European Jihadis"

Robert Rotifer

16.4.2016: „Atemberaubende Zahl europäischer Dschihadisten“ – Zwei Monate später sind die EU-Einwander_innen bereits zu potenziellen islamistischen Terrorist_innen erklärt. Eine gute Lektion für Leute wie mich, die sich ihr Leben lang noch nie in dieser Situation befunden haben: Wie schnell man ohne eigenes Zutun vom willkommenen Teil der Gesellschaft zur mutmaßlichen Bedrohung und einem unerwünschtem Element werden kann.

Mail von 20.5.15: "Migrants Spark Housing Crisis"

Robert Rotifer

20.5.2016, noch einen Monat bis zum Referendum, und die Euro-Dschihadisten ziehen den Brit_innen bereits die Betten unterm Hintern weg: „Migranten entzünden Wohnungskrise“, sagt die Daily Mail.

24.5.16 Express

Robert Rotifer

Am 24. erklärt der Express die EU zu einer „Bedrohung für das Familienleben“: „Mütter des UK sind bereit, sich aus Angst um die Zukunft ihrer Kinder hinter den Brexit zu stellen.“

Never Mind the Bollocks, sagt The Sun am 24.5.16

Robert Rotifer

Am selben Tag zitiert The Sun in einem etwas verwirrten Cover die Sex Pistols und stellt dabei George Osborne, den sie der Panikmache bezichtigt, als Punk dar. Nach dem Referendum wird John Lydon zur Bestätigung dieser dubiosen Appropriation selbst den Brexit unterstützen: „Die britische Arbeiterklasse hat gesprochen.“

Telegraph am 2. Juni 16

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Daily Express am 2.6.16

Robert Rotifer

Die Auswahl an EU- und ausländerfeindlichen Titelblättern aus den letzten vier Wochen vor der Abstimmung ist schlicht zu groß, aber Michael Goves Warnung auf dem Titelblatt des Daily Telegraph - „EU Regeln setzen das UK dem Terror aus“ - und die Express-Schlagzeile - „Invasoren“, illustriert mit einem Bild der Zelte von Asylsuchenden in Calais - verdienen spezielle Erwähnung für überdurchschnittliche Perfidie.

Daily Express am 8.6. 16

Robert Rotifer

Am 8.6.2016, zwei Wochen vor dem Referendum, jagt der Express seinen alternden Leser_innen Angst vor einer EU ein, die ihnen ihre Pensionen wegnehmen will: „Experten sagen: Stimmt ‚Leave‘, um eure Pensionstöpfe zu beschützen.“

Migrantenbombe in der Sun

Robert Rotifer

Eine „neue Migrantenbombe“ verkündet am selben Tag The Sun: „Euro-Richter öffnen die Schleusentore für Illegale“, und bei der kommenden Fußball-EM stehen britische Fans unter Terrorbedrohung. Kaum zu glauben. Was fällt diesen bösen Europäer_innen als Nächstes ein?

The Sun am 15.6. 2016

Robert Rotifer

Wir erfahren es am 15.6., eine Woche vor dem Referendum: Sie schicken „bösartige Euro-Motten“ über den Ärmelkanal – „Wählt ‚Leaf‘ um unser Land zu schützen... und unsere Kohlköpfe!“

Daily Mail am 19.6.16

Robert Rotifer

Daily Star am 19.6.16

Robert Rotifer

Sunday People am 19.6.16

Robert Rotifer

Am Tag nach dem Motten-Titelblatt wurde die „Remain“ unterstützende Labour-Abgeordnete Jo Cox auf offener Straße von einem Rechtsextremen ermordet, der während seiner Tat „Das ist für Britannien! Britannien zuerst!“ rief. Am 18.6. steht er vor Gericht und ruft: „Tod den Verräter_innen!“ - einen Satz, den drei Tageszeitungen „schockiert“ auf ihren Titelseiten ins Land hinaus tragen.

Daily Express am 22.6.16

Robert Rotifer

Am Tag vor dem Referendum schickt der Express die Königin persönlich in die Schlacht. Der Buckingham Palace wird die Story später dementieren, aber da ist die Abstimmung bereits gelaufen. Auf dem Gratis-Brexit-Poster des Express zückt ein englischer Kreuzritter an den Klippen von Dover seinen Speer mit den Worten „Wir verlangen unser Land zurück!"
Vergleiche das ebenso kostümierte Kind weiter oben aus dem August 2014.
Der Prozess der Infantilisierung der öffentlichen Meinung ist abgeschlossen, das Land ist zur Entscheidung reif.

Daily Express "Triple Boost" nach dem Referendum

Robert Rotifer

Der Sunday Express feiert den ersten Sonntag nach dem Referendum mit einem "Dreifach-Boost“: Es werde bloß Monate dauern, bis Britannien seine „key powers“ von der EU zurückerhalten würde, die erste Priorität sei „das Deportieren von Terroristen“, und Angela Merkel „bietet Britannien einen Ölzweig“. Bezeichnend die obere Hälfte der Titelseite: „Die Somme – Gratisbeilage: Hundert Jahre danach, ein Tribut im Gedenken an die mutigen Helden, die in der blutigsten Schlacht des Ersten Weltkriegs kämpften und starben.“

Express am 29.6.2016 - alles die Schuld der EU

Robert Rotifer

Vielleicht mein Lieblings-Titelblatt der ganzen Kampagne: „EU ist am Votum für den Brexit schuld.“ Am 29.6., eine knappe Woche nach dem Referendum, bloß drei Tage nach dem Jubel-Cover. Aber wer dachte, die britische Presse bereute, was sie angerichtet hatte, lag falsch.

Suche nach der neuen Maggie am 8.7.2016

Robert Rotifer

Der Kampf um die Nachfolge des zurückgetretenen Premiers David Cameron kulminiert im Showdown zweier potenzieller neuer Thatchers (weil Frauen) namens Andrea Leadsom und Theresa May. „Die Schlacht der Iron Ladies“, titelt der Express, „Wer wird die neue Maggie sein?“, fragt die Mail. Beide berufen sich dabei auf den beliebten, im Grunde eigentlich frauenfeindlichen, aber bei Bedarf positiv besetzbaren Mythos der „British Battleaxe“, einer Frau reiferen Alters, die die Boys rund um sich zum Erzittern bringt.

"Dover's That Way Love", sagt die Kentish Gazette zur aus Argentinien kommenden Tanzlehrerin

Robert Rotifer

Nach dem Referendum häufen sich Berichte über verbale und körperliche Attacken auf Menschen mit ausländischem Aussehen oder Akzent bzw. dunklerer Hautfarbe. In meiner Heimatstadt Canterbury fragt eine mir bekannte örtliche Tanzlehrerin argentinischer Herkunft einen Mann von der Kathedralenaufsicht nach dem Weg zur Krypta. Er antwortet mit einem Fingerzeig in Richtung Ausgang: „Nach Dover geht’s in diese Richtung, meine Liebe!“, sagt er. Am 7.7.2016 druckt die Lokalzeitung auf ihrer Titelseite ein Porträt der Tanzlehrerin und darüber das Zitat des Kathedralenwächters.

David Davies schickt die Migrantenflut heim. 17.7.16

Robert Rotifer

Die Tanzlehrerin kam zwar nicht aus der EU, aber die Mail gab dem Kathedralenwächter zehn Tage drauf grundsätzlich recht: „Wir werden die EU-Migranten-Flut zurückschicken“, zitiert sie den Austrittsminister David Davis. Zwei Jahre später wird der für das akut unter Mangel an ausgebildetem Personal leidende britische Gesundheitssystem überlebenswichtige Zuzug von Krankenpfleger_innen und Ärzt_innen aus der EU völlig zusammenbrechen.

Corbyn, der Guardian und die Migration

Robert Rotifer

Indessen hat die Opposition die ersten drei Monate seit dem Referendum mit Selbstzerfleischung verbracht. Aus dem Machtkampf zwischen der Parlamentsfraktion und Parteichef Jeremy Corbyn geht letzterer dank der Stimmen der Parteibasis am 24.9.2016 als Sieger hervor. Aus heutiger Sicht liegt der Hauptstreitpunkt zwischen den zentristischen Parlamentarier_innen und Corbyn darin, dass jener sich nicht von seinen Post-Brexit-Fantasien vom „Sozialismus in einem Land“ verabschieden will.

Ein Rückblick auf die Cover-Story des Corbyn-feindlichen, Labour-lastigen Guardian vier Tage nach dessen Wiederwahl zum Parteichef erinnert daran, dass die Zentrist_innen damals von ihm mehr Populismus forderten. Labour sollte beim xenophoben Spielchen der Tories mitmachen und selbst eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit bzw. der Einwanderung fordern, und der starrsinnige Corbyn war dazu nicht bereit. Was im Nachhinein eigentlich sehr schön das bis heute anhaltende Dilemma der Labour-Position illustriert: Die Parteilinke mag den Binnenmarkt wegen seines neoliberalen Entwurfs nicht, die Parteirechte bildet sich ein, man könne ohne Bewegungsfreiheit im Binnenmarkt bleiben. In seiner Konsequenz entspricht eine Kombination davon so ungefähr der – seither an der Realität gescheiterten – Linie von Theresa May.

"Enemies of the People" - der Tiefpunkt

Robert Rotifer

4.11.2016: Möglicherweise der absolute Tiefpunkt in drei Jahren Brexit-Berichterstattung: Eine politisch unabhängige Unternehmerin namens Gina Miller hat einen guten Teil ihres Vermögens darin investiert, bei Gericht durchzusetzen, dass die Regierung dem Unterhaus das Recht geben muss, über den Brexit abzustimmen. Die Daily Mail druckt daher auf ihrer Titelseite Porträts der drei urteilenden Richter mit der Überschrift „Volksfeinde“. Auch der als respektable Stimme des Establishments geltende Daily Telegraph titelt „Die Richter gegen das Volk“.

Wenn die Ermächtigung eines von der Regierung ausgehebelten Parlaments durch die Justiz als volksfeindlich bezeichnet wird, dann entspricht das einer Delegitimierung der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaats zugleich – doch erstaunlich für das Land mit dem stabilsten existierenden politischen System der westlichen Welt. Interessant: Der Daily Mirror witterte als erstes bereits kommende Neuwahlen.

Parlament macht den Weg zu Artikel 50 frei.

Robert Rotifer

14.3.2017, die Propaganda hat gewirkt: Ein Unterhaus, das Angst hat, als volksfeindlich denunziert zu werden, gewährt May ohne kritische, strategische Fragen den Freibrief zur Auslösung des Austrittsprozesses gemäß Artikel 50. Der Daily Telegraph zitiert mit seinem Titel „The new battle for Britain“ wieder einmal den Zweiten Weltkrieg („Battle of Britain“), und die Daily Mail nützt die Gelegenheit, wieder auf die schottische erste Ministerin Nicola Sturgeon loszugehen, die mit einem neuen schottischen Unabhängigkeitsreferendum gedroht hat.

Artikel 50 - Dover & Out

Robert Rotifer

Zwei Wochen später, am 29. März 2017 unterschreibt Theresa May den Brief an Brüssel, der die Uhr zum Ticken bringt. „Dover & Out“ ist die Botschaft, die die Redaktion von The Sun zu diesem Anlass auf die südenglische Küste projizieren lässt: „Heute, da unsere Premierministerin Britanniens Austritt aus der EU auslöst, senden wir diese Botschaft von den ikonischen Weißen Klippen an unsere Nachbarn.“ Nur eine andere wichtige Geschichte passt noch auf die Titelseite: „Katie’s Bra-Xit, erstaunliche Bilder siehe Seiten 2-3“.

Your Money or your Lives, titelt The Sun

Robert Rotifer

Am Tag darauf setzt The Sun den Ton zum Beginn der Austrittsverhandlungen: „Der Premierministerin Brexit-Drohung an die EU: Euer Geld oder euer Leben – handelt mit uns und wir werden helfen, den Terror zu bekämpfen."
Eine Titelseite, an die man sich erinnern kann, wann immer Großbritannien Europa der Erpressung beschuldigt.

May bedrohlich, ruft Neuwahlen aus.

Robert Rotifer

Der 18.4.2017 markiert den Gipfelpunkt der Karriere von Theresa May, der Premierministerin der Daily Mail, mit diesem denkwürdigen Cover am Tag, nachdem sie überraschend Neuwahlen ausgerufen hat: "Zermalmt die Saboteure“.

May behauptet Manipulation durch EU, 4.5.2017

Robert Rotifer

Wenig mehr als zwei Wochen später laufen die Dinge schon nicht mehr so gut, und die Presse macht sich zum Mundstück für Mays unbegründete Behauptung, die EU wolle die britische Wahl manipulieren. Als der Guardian bzw. The Observer später tatsächliche Anhaltspunkte dafür finden, dass amerikanische und russische Interessen die Brexit-Abstimmung finanziell und propagandistisch beeinflusst haben, werden dieselben Blätter dazu schweigen.

Dyson sagt "Let's quit EU talks now"

Robert Rotifer

Es ist der 13. November 2017, Theresa May klammert sich mit Hilfe der Democratic Unionists von Nordirland an ihre hauchdünne Mehrheit, und ein zunehmend frustrierter Daily Express titelt mit dem Brexit-geilen Staubsauger-Fabrikanten James Dyson: „Lasst uns jetzt mit den EU-Gesprächen Schluss machen.“

May droht mit dem Weggehen

Robert Rotifer

Zehn Monate und eine Woche später, am 21. September 2018, dem Tag nach Theresa Mays Auftritt beim Salzburg-Gipfel, ist die Daily Mail immer noch am selben Stand der Dinge: „Zornige May: Wir sind bereit wegzugehen.“

"EU Dirty Rats"

Robert Rotifer

Am selben Tag titelt The Sun: „EU [sprich ‚you‘, also ‚ihr‘] dreckige Ratten“ mit einer Foto-Montage, die die „Euro-Mobster“ Emmanuel Macron und Donald Tusk als Mafiosi mit Maschinenpistolen zeigt. Gleichzeitig zeigen sich die britischen Medien stellvertretend für Theresa May und das ganze britische Volk zu Tode beleidigt, weil Donald Tusk auf Instagram das Bild eines Kuchens mit den Worten „Sorry no cherries“ gepostet hat.

"We're digging in the past"

Robert Rotifer

Am 27. September 2018 schließt sich ein Kreis: Meine Lokalzeitung, die Kentish Gazette, dieselbe, die 2014 all die Bilder kämpfender Kinder drin hatte, veröffentlicht unter der Überschrift „Wir graben in die Vergangenheit“, eine Story über einen 18-Jährigen in Erster-Weltkrieg-Uniform, der sich gemeinsam mit seinem Vater im Garten des Familienwohnsitzes eine authentische Nachbildung der Schützengräben an der Somme von vor hundert Jahren erbuddelt hat. Was für eine perfekte Metapher für Großbritannien am Ende des Jahres 2018.

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