FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Deerhunter

Deerhunter

Kulturpessimismus klingt gut

Deerhunter nennen ihr neues, achtes Studioalbum „Why Hasn’t Everything Already Disappeared“.

von Lisa Schneider

Hallo und Willkommen im Streamingdienstzeitalter. Eine mittlerweile alte Begrüßung. Der neue Album von Deerhunter ist allerdings das erste in fast vier Jahren und somit auch das erste der Band, das direkt hineinkracht in die große Zeit der Algorithmen und auf persönlichen Vorlieben hin generierte Playlists.

„Why make this album in an era when attention spans have been reduced to next to nothing?“ fragt die Band in einem Pressestatement. Dementsprechend nennen Deerhunter ihr neues Album „Why Hasn’t Everything Already Disappeared?“

Leitfaden weirdness

Chaos, Außenseitertum und Verwirrung waren seit dem Durchbruch mit „Cryptograms“ 2007 die Themen der Band aus Atlanta, rund um Sänger und Songschreiber Bradford Cox. Ausgefuchster Shoegaze, Fuzz, zerstörerische, jugendliche Wut und philosophischer Anspruch, halb Krach, halb Schönheit.

Neben der Neigung zum guten Artrock-Wirrwarr, der sich musikalisch vor allem in Lo-Fi-Aufnahmen und in die Songs hinein gestreute Störgeräusche (Sirene! Türknallen! Schlittschuh auf Eis!) ausgedrückt hat, standen vor allem auch Bradford Cox’ autobiographische Texte im Zentrum der Songs. Später war der Sound geschliffener, die Texte noch immer Cox pur. Das neue Album aber - in Folge abgekürzt mit WHEAD - tauscht Introspektive gegen Außenschau.

Perspektivenwechsel

Die Geschichten der Songs werden von verschiedenen Protagonisten erzählt, die nicht Bradford Cox sind; dafür sind sie zu weit in der Zeit gereist. Etwa zurück zur russischen Revolution von 1917 („Death in Midsummer“) oder nach Marfa, Texas, einer obskuren Künstlerhochburg, wo das Album großteils aufgenommen wurde. James Dean hat dort seinen letzten Film „Giant“ gedreht und kommt im Song „Plains" zu Wort. Es geht außerdem weiter, nach Japan, und quer durch Europa. Ein Streifzug durch Schutt und Asche, von der Menschheit hinterlassen; Misere überall, Krebserkrankungen, Klimakatastrophen, Kulturzerfall. “How do you describe an album out of time, concerned with the disappearance of culture, of humanity, of nature, of logic and emotion?“

Bradford Cox’ Charaktere jammern aber nicht, sie nehmen hin, und leben das Ressentiment: „Walk around and you’ll see how it fades“. Diese Songs sind kein Aufruf, die Welt zu verbessern. Sie sind eher der Blick in den Abgrund und das Lachen über die eigene, lächerliche Existenz.

„Death in Midsummer“ war die erste veröffentlichte Albumsingle. Eine, die wie „Snakeskin“ auf „Fading Frontiers“, oder „Revival“ auf „Halcyon Digest“ heraussticht. Ein „Hit“ im Sinne Deerhunter, leichte Schwermut und verschlafene Gemütlichkeit. Kann man so nicht lernen.

Melodie oder Refrain sind nach wie vor Nebensache, und damit entschlüpft die Band seit bald 15 Jahren dem Mainstream. In einem Interview erzählt Bradford Cox, er ist zufrieden mit genau dem Grad an Berühmtheit, den er jetzt erreicht hat. Mehr will er nicht, schließlich hat er ja auch noch sein Leben und seinen Hund. Immerhin, als kleines Beispiel, Deerhunter sind eine der Bands, die regelmäßig etwa am großen Primavera Sound Festival in Barcelona spielen (so auch heuer wieder).

Metaebene mitgedacht

Die Frage jedenfalls, ob überhaupt jemand dieses Album in seiner Vollständigkeit anhören wird, stellt Bradford Cox nicht umsonst. Die erste Hälfte von „WHEAD“ hätte als sehr gute EP durchgehen können, inklusive dem instrumentalen „Greenpoint Gothic“. Danach franst alles aus.

Cover Deerhunter "Why hasn't everything already disappeared?"

4AD

Das 8. Album von Deerhunter fragt: „Why hasn’t Everything Already Disappeared?“ und erscheint via 4AD.

Lockett Pundt, Gitarrist von Deerhunter, ist auch diesmal wieder für einen Song des neuen Albums verantwortlich: das verträumte „Tarnung“. Ähnlich dem außerirdisch schönen Mammutprojekt „Planetarium“ von Sufjan Stevens, leider aber ohne dieselbe Intensität.

Auch „Détournement“ tanzt aus der Reihe, die Erzählung einer seltsamen Reise über den Globus: „Hallo Spanien, hallo Red Woods, Kalifornien“ singt Braford Cox mit roboterähnlich verzerrter Stimme. Ähnelt einem ominösen Drohanrufer, der via Telefonleitung Lösegeld erpressen will. Und wie um die Verstörung zu komplettieren, folgt am Schluss „Nocturne“, das mehr nach DIY-Demotape und Kellerstaub als - wie der Rest des Albums - nach sauberem Studio klingt.

Der nach hinten immer skizzenhaftere Aufbau des Albums ist aber nur stringent. Angefangen mit barock anmutenden Popansätzen und in direkter Nachfolge des glatt produzierten Vorgängeralbums „Fading Frontiers“ steigert sich „WHEAD“ gegen Ende hinein in (noch) offenere Songstrukturen und freudige Zerrissenheit. Dass einem das Album gegen Ende fast spürbar unter den Fingern zerbröselt, ist ein schöner Regie-Twist: die musikalische Antwort auf die Frage, die der Albumtitel stellt.

mehr Musik:

Aktuell: