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Der gelbe FM4-Würfel

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

„Simple as that.“

Warum die Pseudo-Authentizität der Voxpop, der Straßenumfrage, eine große Mitschuld am Brexit (und dergleichen) trägt.

Von Robert Rotifer

Vor einigen Jahren, vielleicht auch vor Jahrzehnten, kam bei mir in London ein vielversprechendes Polsterkuvert aus Wien an. Eigenartige Dimension, der Inhalt dick und eckig, Absender Funkhaus. Vielleicht ein verirrtes CD-Boxset? Gierig riss ich das Päckchen auf und fand darin…

Eine Vox pop (Kurzform von lat. Vox populi, dt. Stimme des Volkes) ist ein journalistischer Beitrag in Form einer Umfrage. Dabei werden meist Passanten zu ihrem Wissen oder ihrer Meinung über ein bestimmtes Thema interviewt.

Einen gelben FM4-Würfel der Sorte, die man auf ein Mikro aufsteckt. Die Kolleg_innen vom Reality Check hatten ihn mir geschickt, auf dass ich damit auf Voxpop-Jagd gehen könnte.

Meine Reaktion war augenblickliches Schuldgefühl.
Ich wusste genau, dass ich ihn nie verwenden würde, den Würfel.

Erstens, weil mein Stereomikro so klein war, dass es mit dem für phallisch dimensionierte Mikros vorgesehenen Aufsatz gleich noch viel armseliger ausgesehen hätte.

Zweitens, weil natürlich niemand auf der Straße hier FM4 kennt. Und irgendwie fällt es mir leichter, zu sagen „Sorry, can I ask you a question for Austrian radio?“, wenn ich wie ein kompletter Amateur aussehe, als wenn ich auf den fragwürdigen Zauber eines dem Gegenüber unbekannten Logos hoffe.

Die unsendbare ehrliche Antwort

Der ganze Zweck eines solchen Würfels oder Logo-bedruckten Windschutzes beläuft sich schließlich auf zweierlei: Einerseits, das Vor-Ort-Gewesensein zu beweisen, zumal wenn gefilmt wird.
Andererseits, von den spontan Interviewten ernstgenommen zu werden.

Damit eröffnet sich aber noch eine weitere, performative Ebene. Die Befragten sind eingeladen, eine Rolle zu spielen. Die Sorte Sachen zu sagen, die man andere bei solchen Gelegenheiten sagen gehört hat. Vielleicht sogar mit (unbewusster) Rücksichtnahme auf die von Würfel oder Windschutz repräsentierte Corporate Identity. Wäre einmal ein interessantes Experiment zu sehen, ob man mit Ö3-, FM4-, Ö1-, generischem ORF- oder, sagen wir, Servus-Logo verschiedene Antworten auf dieselbe Frage kriegt.

Ich bilde mir ein, ganz ohne Würfel, also im Gespräch mit einem Logo-losen, etwas peinlich berührt aussehenden Ausländer, der einen gerade mit seinem Mikrophon belästigt, fallen Voxpops (kurz für „vox populi“ - „die Stimme des Volkes“) tendenziell ehrlicher aus. Und die ehrliche Antwort auf fast alle Fragen heißt natürlich:
„I don’t know, I haven’t thought about it.“

Denn selbst wenn sie darüber nachgedacht haben, die Befragten, dann vermutlich nicht gerade jetzt, wo der peinlich berührt aussehende Ausländer mit dem Mikrophon sie gerade auf dem Heimweg aus der Arbeit/auf dem Weg zum Abholen des Schulkindes/unterwegs in Richtung Ehebruch mit seiner dummen Frage überfallen hat.

Ganz schön viele Leute geben einem auch genau diese ehrliche Antwort, nur ist die natürlich nie sendbar, weil leider auch wertlos. Sendbar sind nur die Antworten der Leute, die sich zufälligerweise auskennen, den Klang ihrer eigenen Stimme beim Schwadronieren mögen oder aus reinem Mitleid mit dem peinlich berührt aussehenden Ausländer aus dem Stand eine Meinung erfinden. Und aus deren besten Sätzen und Satzfetzen schneidet man sie dann zusammen, die Stimme des Volkes.

„Seine Landsitze, seine schnittigen Autos und seine Pferdekutschen.“

Das war übrigens auch nie anders, siehe eine Kindheitserinnerung: Eines Nachmittags nach der Schule, tief im 20. Jahrhundert, erzählte meine Mutter meiner Schwester und mir, sie sei heute von Ö3 auf der Straße darüber befragt worden, was Frauen an Prince Charles, dem damals angeblich begehrtesten Junggesellen, so interessant fänden. Sie hätte die Gelegenheit ergriffen, denen einmal ihre Meinung zu sagen. Darüber wie wenig sie einer beeindruckt, der seine Macht und seinen Reichtum ererbt hat, und dass er ihr gestohlen bleiben könne, dieser Typ und seine Landsitze, seine schnittigen Autos und seine Pferdekutschen.

Wir saßen also in der Küche vor dem Radio und warteten auf den Bericht. Wir hörten die Frage des Reporters: „Also, was ist an Prince Charles so begehrenswert?“ Und darauf die Antworten verschiedener Frauen, schließlich auch die Stimme meiner Mutter: „Seine Landsitze, seine schnittigen Autos und seine Pferdekutschen.“

Daran muss ich immer denken, wenn ich Voxpops sammeln gehe. Denn eine Variante davon erzeugt letztlich jedeR, die/der sich dieser journalistischen Notfallstechnik bedient. John Harris, Kolumnist beim Guardian, schrieb in der heutigen Zeitung was selten Ehrliches. Er war kurz vor Weihnachten in Cowley, beim BMW-Werk nahe Oxford gewesen, wo der Mini hergestellt wird und die jährliche Werkpause heuer vom Sommer ausgerechnet auf das geplante Brexit-Datum Anfang April vorverlegt wurde. Als BMW seine Anfrage zu einem Fabriksbesuch ablehnte, schreibt Harris, „fand ich mich damit ab, dass ich stundenlang Voxpoppen werden müsste.“ Der letzte Ausweg des Journalisten vor verschlossenen Türen, ohne Akkreditierung oder Termin.

Nicht, dass er dabei nichts gelernt hätte. Die wichtigste Erkenntnis seiner Straßenbefragung war, wie gelangweilt die in einer vom Ausgang des Brexit akut abhängigen Gegend lebenden Menschen sich von diesem sie existentiell betreffenden Thema zeigten. Vor Ewigkeiten hatten sie sich zur Abstimmung aufgerafft, ihren Protest deponiert, und jetzt stritten die Politiker_innen immer noch drum herum. Dass ihre örtliche Fabrik betroffen sein könnte, glaubten sie sowieso nicht, schließlich war ja bisher auch noch nichts passiert. Überall, so Harris, traf er auf „Grimassen und Augenrollen“.

Zu seinem Vorteil ist Harris Print-Journalist, also kann er aus diesem sprachlosen Desinteresse eine Erzählung darüber formen, wie ein Großbritannien, das vom Brexit einfach nichts mehr hören will, “ins Desaster schlafwandelt“.
Fernseh- und Radiojournalist_innen dagegen sind auf die Leute angewiesen, die ihnen hilfsbereit das pflichtgemäße „Those politicians, they’ve just gotta get on with it“ ins Mikro sagen.

In der laufenden Analyse des Brexit ist immer viel von der Manipulation durch soziale Medien, Politiker_innen, die von ihnen geführten Kampagnen und der falschen Ausgewogenheit der „He said - she said“-Berichterstattung traditioneller Medien die Rede. Wenig beachtet und meines Wissens nach komplett ununtersucht blieb dagegen der nach meinem subjektiven Gefühl enorm meinungsbildende Faktor des Voxpops. Schließlich hatten wir es hier mit einer Kampagne zu tun, die sich aktiv von Expertenmeinungen distanzierte (Michael Goves berühmter Sager „The British people have had enough of experts" vom Juni 2016 ist es wert, im Kontext noch einmal angesehen zu werden).

Jede_r, die/der seither in Fachausdrücken spricht, Politiker_innen, die sich vorsichtiger Formulierungen bedienen, Menschen, die Zahlen zitieren, sie alle können sich den Mund fusselig reden, nichts davon wird hängen bleiben. Denn am Ende des Berichts folgen die Voxpops von der Straße. People on the street telling it like it is.

Das Volk hat gesprochen

Und jedesmal, aber wirklich jedesmal sagen die Sachen wie: „Ich glaub, wir sind ein starkes Land, und wir halten das aus, wir haben ja den Krieg auch ausgehalten.“ „Das Volk hat gesprochen, und die Politiker machen nicht weiter.“ „Ich glaube, Theresa May gibt ihr Bestes, aber die anderen um sie herum streiten nur.“ „Die in Europa brauchen uns mehr als wir sie.“ „Alles nur Angstmacherei.“ Und immer wieder mein Lieblingsargument: „Wenn wir einfach gehen, brauchen wir der EU gar nichts zu zahlen, da ersparen wir uns 39 Milliarden.“

Wenn ein_e Politiker_in sowas sagt, sollte die/der Interviewer_in bei solch faktischem Blödsinn (Wie will ein Land mit jener EU, die es gerade um sämtliche Ausstände betrogen hat, ein Freihandelsabkommen ausverhandeln?) wohl einhaken bzw. eine fundierte Gegenmeinung einholen. Zu den Spielregeln des Voxpops gehört dagegen, dass die Volksmeinung stets unwidersprochen zu bleiben hat. Wie die Trotteln sehen sie dann aus, die Interviewer_innen mit ihren verdutzten Gesichtern und ihren komplizierten Theorien, wenn die Stimme des Volkes ihnen die ganz ganz einfache Wahrheit reinsagt. „Simple as that.“* „End of.“* *

“Zur Hölle mit dem Rest der Welt“, stimmt dann auch der volksverbundene Fußballtrainer Neil Warnock mit ein. Wer braucht schon den Rest der Welt? Der Ton ist vorgegeben, die Phrasen stehen bereit für den Moment der geforderten Wortspende.

Theresa May ist bei all ihrem offensichtlichen Unwohlsein im Umgang mit dem gemeinen Volk doch Populistin genug, um diese Dynamik zu verstehen, also hat sie dem Volk versprochen, dass die Nation „die Kurve nehmen“ und sich endlich wieder anderen, wichtigen Dingen zuwenden kann, sobald ihr Austrittsabkommen vom Parlament bestätigt wird.

Das ist freilich eine glatte Lüge, denn damit würde erst jene zweijährige Übergangsfrist beginnen, in der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen geführt werden müssen. Dessen Details werden in Großbritannien mindestens genauso umstritten sein wie die des Austrittsabkommens. Aber egal, was sie sagt, spricht den Voxpops nach dem Mund.

Wenn ich hier nun wiederum eine Verbannung aller Voxpops aus den Nachrichten fordere (nicht dass wer auf mich hört), klingt das natürlich auch bloß wieder nach einem Versuch, das Meinungsmonopol des elitären Kommentariats zurückzuerlangen. Aber wie ich versucht habe zu erklären, ist ein Voxpop um nichts authentischer als das Statement eines Politikers oder einer Expertin, ganz im Gegenteil.
Es ist nie der klare, unverfälschte Ton, sondern immer Feedback und Verzerrung.

Interessanterweise sind es ausgerechnet die mutmaßlich volksverräterischen Remainers, welche derzeit die einzigen ehrlichen Bemühungen anstellen, die „Stimme des Volkes“ tatsächlich ernsthaft anzuhören.

Sei es mittels eines „People’s Vote“ (dem trotz mangelnder Unterstützung der Opposition immer noch nicht auszuschließenden Zweiten Referendum) oder einer Bürger_innenversammlung, eines Citizens’ Assembly nach irischem Vorbild. Die britischen Medien scheint letzterer Vorschlag allerdings kaum zu interessieren. Voxpops gehen schneller. End of.

*Volksmündliche Redewendung zum Zweck der Ausblendung komplexer Zusammenhänge.
* * Kurz für „end of story“: volksmündliche Redewendung zum Abbruch von Geschichten, die eigentlich noch weitergehen.

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