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Theresa May

APA/UK PARLIAMENT/AFP/Mark DUFFY

ROBERT ROTIFER

„This vote tells us nothing.“

Was gestern im britischen Unterhaus passierte, macht genauso viel Hoffnung wie Angst. Versuch einer Vorschau.

Von Robert Rotifer

Eigentlich war schon vor der Abstimmung klar, dass Theresa May sie nicht bloß verlieren, sondern danach einfach weitermachen würde, als wäre nichts gewesen. Wir kennen sie mittlerweile.

Trotzdem muss ich sagen, mir blieb die Kinnlade offen, als die Premierministerin sich sofort nach der Auszählung der möglicherweise größten Niederlage einer Regierung in der Geschichte der britischen Demokratie einfach ans Pult stellte und sagte: „Dieses Votum sagt uns gar nichts.“

Ein „meaningful vote“ über das Austrittsabkommen hatte das Parlament sich gegen ihren Willen erkämpft und jetzt wo May dieses so verheerend verloren hatte, erklärte sie es einfach ungerührt als bedeutungslos. Diese blanke Unverschämtheit, diese pure Chuzpe, diese grenzenlose Arroganz, diese schiere Verachtung des Systems, das einen an die Macht gebracht hat, diese völlige Absenz jeder Spur von Anstand und Würde – ganz ehrlich, wie schafft man das?

Zum Beispiel, indem man weiß, dass einem eigentlich niemand was anhaben kann. Das Misstrauensvotum innerhalb der Tories hat May im November gewonnen, laut Parteistatut kann ein Jahr lang kein weiteres eingebracht werden.

Daily Mirror Titel "No hope No clue No deal No confidence"

Daily Mirror

Labours leerer Traum von Neuwahlen

Im Parlament wiederum bräuchte es – laut David Camerons Fixed Parliament Act aus dem Jahr 2010, der Mann ist wirklich an allem schuld – eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die von Jeremy Corbyn so unermüdlich herbeigewünschten Neuwahlen zu erzwingen (die er dann erst recht nicht gewinnen würde, aber das ist wieder eine andere Sache).

Daraus wird sicher nichts, denn bei den Tories will niemand Neuwahlen ausfechten.

May wird in den nächsten Wochen also ihre soziophoben Instinkte überwinden, die Luft anhalten, und zumindest so tun, als suchte sie den Konsens. Wunder geschehen, vielleicht trifft sie sich ja sogar einmal mit der Opposition. Sie wird nach Brüssel fahren und sich dort eventuell eine elegantere, neue Formulierung für den umstrittenen „Irish Backstop“ abholen.

Doch die Zahl der „No Deal“-Verfechter_innen in ihrer eigenen Fraktion ist groß genug, dass sie in etwa die Hälfte der Labour-Fraktion auf ihre Seite ziehen müsste, um sich doch noch eine Mehrheit zu sichern.

Dazu ist sie allerdings ganz offensichtlich nicht kompromissbereit genug. Nach wie vor zeigt sie keinerlei Anstalten, auf Labours Hauptbedingung einer (ohnehin rein hypothetischen) speziellen Zollunion mit der EU einzugehen.

Ein zweites Referendum - an May und Corbyn vorbei?

Darüber hinaus hat Jeremy Corbyn bereits angekündigt, er werde nach dem heutigen Misstrauensvotum noch ein paar mehr davon einbringen. Das sollte die Stimmung zwischen ihm und May reichlich vergiften und jede noch so ferne Aussicht auf eine Annäherung verunmöglichen.

In der Zwischenzeit sieht es so aus, als würde John Bercow, der Speaker (sowas Ähnliches wie ein Parlamentspräsident), Initiative ergreifen und einem Antrag aus den konservativen Hinterbänken zur Verlängerung der Artikel 50-Deadline in den Sommer stattgeben, der notfalls auch an der Regierung vorbei das Unterhaus passieren könnte. Die EU würde einen solchen Aufschub - trotz des Problems der kommenden Europa-Wahlen - vermutlich gewähren. Das könnte dann auch die nötige Zeit für ein viel erhofftes zweites Referendum schaffen.

Daily Mail Titelseite: "Fighting for her life"

Daily Mail

Und um jetzt einmal zur Abwechslung ein bisschen Optimismus zu versprühen: Die Chancen dafür sind seit gestern Abend erheblich besser geworden.

Stimmt schon, Corbyn hat, wie ich zu Weihnachten hier erklärt habe wenig Appetit darauf, aber der Druck, sowohl von seiner Parteibasis als auch seiner Parlamentsfraktion, nimmt stetig zu. Im Moment haben sich 100 von 256 Labour-Abgeordneten als Unterstützer_innen dieser Lösung deklariert, die Liberaldemokrat_innen, die (auf eine neue Unabhängigkeitsabstimmung hin arbeitenden) schottischen und walisischen Nationalist_innen, sowie die eine Grüne Caroline Lucas wären auch dabei. Aber für eine Mehrheit bedarf es auch hier eines mutigen Schulterschlusses mit Gleichgesinnten auf der anderen, konservativen Seite des Hauses.

Sollte Corbyn sich für eine Neuauflage der Volksabstimmung gewinnen lassen, stellt sich noch die Frage nach der Frage:
Drei Optionen oder zwei?
Der Deal oder Remain?
Der Deal oder kein Deal?
Kein Deal oder Remain?
Der Deal, kein Deal oder Remain?

Nach derzeitigen Umfragen würde Remain in jedem dieser Fälle gewinnen (bis auf „Der Deal oder kein Deal“ natürlich, aber das scheint undenkbar), aber unterschätzen wir nicht die Dynamik des vom bisherigen Austrittsprozess verletzten Nationalstolzes, die Macht der Brexit-lastigen Medienlandschaft und – schlimmer noch – die schiere Erschöpfung, die sich auf unvorhersehbare Weise äußern könnte. Erst vorgestern schrieb ich hier über die endlose Tristesse der von Fernsehteams eingeholten Volksmeinung zum Thema, den ewigen Refrain des „Get on with it“ und „Just leave and be done with it“.

Je länger sich die Angelegenheit hinzieht, je unwürdiger das Schauspiel im Parlament, je größer das Gefühl der Demütigung durch die EU, desto lauter werden diese Stimmen werden. Das alles macht genauso viel Angst wie Hoffnung.

Trotzdem: Hätte Theresa May gewonnen, dann hätten wir uns ab Ende März in einer zweijährigen Übergangsperiode wiedergefunden. Und an deren Ende hätte sich dasselbe Schlamassel rund um ein bis dahin nicht menschenmöglich verhandelbares Freihandelsabkommen präsentiert.

Es war also schon besser so, wie es kam.

Allerdings, falls heutzutage überhaupt noch jemand mit dem Gedanken spielen sollte: Ich würde für die nächste Zeit einmal nicht nach Britannien ziehen.

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