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Zwei Frauen in einem Haar-Extensions-Geschäft

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Sudabeh Mortezais erschütternder Spielfilm „Joy“

Der neue Spielfilm von Sudabeh Mortezai zeigt das System der Versklavung und den Alltag nigerianischer Frauen in Wien, die sich prostituieren müssen. Es geht um Sex-Trafficking, also Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung.

Von Maria Motter

Sie heißen Joy und Precious. Die Müdigkeit ist ihnen anzusehen und die Bedeutungsschwere ihrer Namen wiegt zwischen Nacht und Tag doppelt: als Straßenprostituierte müssen sie an den Rändern Wiens die Summe verdienen, die ihre Überführung nach Europa angeblich gekostet hat. Der Spielfilm „Joy“ thematisiert Sex-Trafficking, also Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung. Es ist die Versklavung von Menschen. Es ist ein Wirtschaftsfaktor, nicht zuletzt für Terrorgruppen wie den sogenannten Islamischen Staat und die Terrorsekte Boko Haram. Ein Wirtschaftsfaktor, der mit Milliardensummen beziffert wird.

Aus dem Film "Joy": Frau mit Kleinkind

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„Joy“ läuft seit 18.1.2019 in den österreichischen Kinos.

All das kann man wissen oder auch nicht, wenn man Sudabeh Mortezais zweiten und neuen Spielfilm „Joy“ anschaut. Die Erzählung bleibt stets nah bei ihrer Hauptfigur und es ist das Gesicht der Schauspielerin Joy Alphonsus, in das man blickt und sich Orientierung über ihre Gefühle erhofft. Manchmal ist es ein Pokerface, oft vermittelt sie einen stoischen Eindruck und unerschütterlichen Trotz gegen Gewalt und Betrug. Eine unterschwellige Spannung zieht sich durch den Film, denn Joys Vergangenheit bleibt eine Leerstelle. Mit einer Einordnung, gar einer moralischen Kategorisierung bleibt das Publikum allein zurück. Kaum eine Szene bietet Sicherheit. Gewiss ist aber, dass auf den Epilog, in dem es einem Huhn an Kragen und Herz geht, noch weit Brutaleres folgen wird.

Hervorragend inszeniert und mit wunderbarem Licht spielt sich in „Joy“ ein Horror ab, der für zehntausende Frauen aus Nigeria in europäischen Bordellen und auf dem Straßenstrich Alltag ist. Wenn Joy sich im kargen Zwei-Zimmer-Quartier mit fünf anderen Frauen anstellt, um ihre Geldscheine gebündelt der Zuhälterin zu überreichen, stehen zwei junge Männer neben der „Madame“, wie die jungen Frauen die Zuhälterin ansprechen. Joy will der jüngeren Precious beistehen, ihr Geld leihen. Precious ist erst wenige Tage in Wien, Joy nimmt sich ihrer an und führt sie zugleich in ihren eigenen realen Alptraum. Das System speist sich aus emotionalen und physischen Erpressungen, aus Manipulation und Betrug.

Aus dem Film "Joy": fünf Frauen in einem Raum

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„Sex Trafficking“ von Kindern und Frauen wird in Nigeria mit einem Minimum von fünf Jahren Haft und circa 2.400 Euro Geldstrafe geahndet. Zumindest sieht das ein Gesetz seit 2015 so vor.

Tausende Frauen werden jedes Jahr in Benin City mit den falschen Versprechen, nach Europa und in ein gutes Leben gebracht zu werden, geködert. Dieselben Taten werden in Libyen begangen. In Benin City gibt es eine eigene Spezialeinheit, die Menschenhändler ausforscht.

„Was ist das? Juju?“, fragt ein besorgter Freier die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle. Juju ist ein Schwur und eine Art religiöse Praxis, verbreitet von Juju-Priestern und von Pastoren evangelikaler Kirchen. In einem Ritual nimmt sich der Juju-Priester intime, kleine Stücke der Frau wie Zehennägel und Haare, auch Fotos. Die Frauen müssen schwören, für ihre Überführung nach Europa (oder in die USA und in den Nahen Osten) jede Arbeit anzunehmen, die „Madame“ und deren Handlanger unter keinen Umständen zu verraten und die „Reise“ zu bezahlen. Andernfalls wären sie verflucht, so die Vorstellung.

Die Frauen denken und hoffen, sie würden als Putzfrauen engagiert. An dieser Stelle ein „Spoiler“: Binnen der ersten halben Stunde spielt sich eine der erschütterndsten Vergewaltigungsszenen des österreichischen Spielfilms der jüngeren Jahre ab. Nur ein leichter Vorhang, achtlos halb zugezogen, teilt zwei Räume voneinander. Man hört nur Precious’ Flehen und Weinen, sieht kurz einen Mann. Das Weinen verstummt und zwei Männer kommen aus dem Nebenzimmer in jenen Teil der Wohnung, indem sechs andere Frauen währenddessen stumm dasaßen.

Aus dem Film "Joy": eine ernst blickende Frau

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Das Time Magazin bietet eine beachtenswerte Reportage zu Frauen, denen ein Bruch mit dem Juju-Schwur gelang, an.

Ein Buchtipp: „In Freiheit leben, das war lange nur ein Traum: Mutige Frauen erzählen von ihrer Flucht aus Gewalt und moderner Sklaverei“ von Lea Ackermann, 2010 bei Kösel erschienen.

Es ist eine Komplizenschaft mit TäterInnen. Joy wird Precious gegenüber die Worte des britischen Philosophen Herbert Spencer zitieren, die Charles Darwins Evolutionstheorie kurzfassen: „It’s a survival of the fittest“, erklärt Joy Precious knapp und sie solle ihr Verhalten nicht missinterpretieren. Sie helfe ihr nicht, sie würde sie bestehlen und belügen, wenn es um ihr eigenes Fortkommen ginge. Joy will Freiheit, dafür muss sie sich freikaufen.

Bereits 2014 hat „Akte X“-Star Gillian Anderson versucht, mit ihrem Film „Sold“ auf Menschenhandel und Versklavung aufmerksam zu machen. „Joy" streift viele komplexe Situationen und Tatsachen wie nebenbei. Die Erzählhaltung ist nüchtern und Sudabeh Mortezai hat das klügste Ende gewählt. Wie sie ihr Publikum aus dieser Geschichte entlässt, ist derart ernüchternd, dass man jeglichen Glauben verlieren könnte. Der Glaube des weißen, es ja „nur gut“ meinenden Freiers, der die Lieblingsprostituierte in einer kleinen Wohnung unterbringen und vor jeglichem Zugriff durch Polizei und Zuhälterin verstecken will, und die Vorstellung Joys, in Europa doch Freiheit zu erlangen – sie scheinen grenzenlos.

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