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Dschungel

Pixabay / CC0

Willkommen im Dschungel!

Ein junger Arzt mit unbändigem Forscherdrang. Eine seltene Schildkrötenart und InsulanerInnen, die augenscheinlich nicht altern. Ein Nobelpreis und schwerwiegende Anschuldigungen. Hanya Yanagiharas brutal brillanter Debütroman ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Von Maria Motter

In Hanya Yanagiharas New Yorker Wohnung stehen 12000 Bücher in den Regalen. „Jeder, der seine Bücher nach Farben anordnet, den kümmern die Inhalte der Bücher nicht wirklich“, wird die Tochter hawaiianischer Eltern zitiert. Sie ist die Chefredakteurin des Lifestyle-Magazins „T“ der New York Times und schreibt Romane, die Bestseller sind, doch zugleich immer mit einer Warnung empfohlen werden: Emotional fordernd und nicht für jede/n geeignet seien ihre Geschichten.

Ihr in New York angesiedelter Roman „Ein wenig Leben“ war ein Lob der Freundschaft. Schnell musste eine zweite Auflage in Druck gehen, die ersten 5000 Stück waren sofort weg. Anders verhielt es sich mit Hanya Yanagiharas Debütroman „The People in the Trees“, auf den viele erst nach dem Lesen von „Ein wenig Leben“ aufmerksam wurden. Jetzt ist dessen deutschsprachige Übersetzung erschienen: "Das Volk der Bäume“ führt uns auf eine Pazifik-Insel, fern der westlichen Zivilisation.

Hanya Yanagihara

Sam Levy

Hanya Yanagiharas neuer Roman trumpft mit einem Schachzug nach dem anderen auf. Das beginnt bei der Erzählperspektive: Du schlägst dieses Buch auf und ehe die Handlung auf die Insel führt, tritt ein Wissenschaftler an, einen hochgeschätzten Kollegen zu verteidigen. Einem Norton Perin werden Vergewaltigungen und Missbrauch Minderjähriger vorgeworfen. Um seinen Ruf wiederherzustellen, so denkt der treue Wegbegleiter, solle Norton seine Lebensgeschichte aufschreiben. Genügend Zeit hat er in Haft. Penibel um Fußnoten ergänzt, liegt also das Manuskript dieser Autobiografie vor.

Weil ihn die Experimente an Labormäusen quälend langweilen, schließt sich Norton Perina als junger Arzt dem Expeditionsteam eines Anthropologen an, der ein noch unbekanntes, steinzeitlich lebendes Volk auf einer Insel in Mikronesien aufsuchen will. Bislang hatten die InsulanerInnen jegliche Besuche westlicher Menschen erfolgreich abgewehrt. Drei Einheimische helfen bei der Überfahrt. Schnell fühlt sich Norton Perin wie vom Dschungel verschluckt und die eigene Existenz erscheint ihm bedrückend mickrig. Doch bald macht das kleine Forscher-Trio eine so verstörende wie verheißungsvolle Entdeckung: Einige der Einheimischen sind 140 Jahre alt und gar älter.

"Das Volk der Bäume" Cover

Hanser Verlag

„Das Volk der Bäume“ von Hanya Yanagihara ist 2019 in der tollen Übersetzung von Stephan Kleiner bei Hanser Berlin erschienen.

Und je länger sich die US-Amerikaner in diesem Wald aufhalten, den die Autorin mit hundert Wörtern meisterhaft zeichnet, desto bizarrere Verhaltensweisen der InsulanerInnen offenbaren sich den Fremden. Körperliche Erschöpfung, unbändiger Forscherdrang und ein Rausch an Sinneseindrücken finden ihren Niederschlag. „In der Finsternis lauerten Monster und Geister, und in dem, was ich nicht sehen konnte, sah ich alles, was ich fürchtete.“

Norton Perina wird erst eines, dann weitere, schließlich über vierzig Kinder, vor allem Burschen, aber auch Mädchen mit sich in die USA nehmen und adoptieren. „Vor fast sechs Monaten war es ein Ort miteinander verwobener Wonnen und Schrecken gewesen, doch nun war es ein erschlossenes Land, das uns bereits langweilte.“

An Überheblichkeit mangelt es dieser Hauptfigur nicht. Wie in „Ein wenig Leben“ sind die Figuren komplexe Charaktere, deren Eigenwilligkeit einen vor den Kopf stoßen kann - und vermutlich auch soll. Dieser wilden, mitreißenden Erzählung hat Hanya Yanagihara ein Zitat aus Shakespeares „Der Sturm“ vorangestellt. Das Cover zeigt eines ihrer Lieblingsbilder, den Künstler Joseph Raffael in einem Botanischen Garten. Nichts ist hier dem Zufall überlassen, auch wenn sich das Buch so schnell verschlingen lässt, dass man es gleich noch einmal lesen könnte.

„Das Volk der Bäume“ ist eine moderne Robinsonade voll poetischer Bilder, eine akribisch ausgefeilte, erfundene Biografie und ein Wissenschaftskrimi in einem. Beeindruckend nebensächlich stellen sich Fragen nach Weltbildern und Überzeugungen. Wie weit geht die Wissenschaft und was sind wir willens, zu tolerieren? Wer ist hier zivilisiert? Und welche Konsequenzen haben Kinder zu tragen, die für Adoptionen über Weltmeere geflogen wurden? Und was kann einen erfolgreichen Mann, der Großes geleistet hat, zu Fall bringen?

Wer vor Weihnachten wiederum die Meldung las, dass ein junger US-Amerikaner von Volk auf einer abgelegenen und abgeriegelten Insel im Indischen Ozean ermordet wurde, der musste sofort denken: More people in the trees? Der junge Mann wollte den InselbewohnerInnen die Bibel bringen. Seinen Leichnam zu bergen, stellte sich als unmögliche Mission heraus.

Eine Inspiration für die fiktive Person des Norton Perina war für Hanya Yanagihara der reale Fall des Mediziners Daniel Carleton Gajdusek, der für seine Forschung zu Kuru, einer Prionenkrankheit, die er bei einem vermeintlich kannibalistischen Volk in Papa-Neuguinea entdeckte, den Medizin-Nobelpreis erhielt.

„Es war eine Stimme, die nichts verriet – weder Zustimmung noch Fröhlichkeit, noch Angst oder Verärgerung – und einen zugleich mit der Verheißung von Geheimnissen um den Verstand bringen konnte“, lässt Hanya Yanagihara ihre Hauptfigur Norton Perina über jenen Anthropologen sagen, der ihn mit auf diesen Trip genommen hatte, und die Aussage beschreibt ihre Erzählweise.

Spoiler-Alarm

Es ist ein Wermutstropfen, dass Ankündigungen zu „Das Volk der Bäume“ Teile der Geschichte vorwegnehmen, ja gar von einer „Liebe zu Kindern“ sprechen. Soviel sei verraten: So düster und ausufernd die Geschichte in Abschnitten wird, so abgrundtief es hier wird - am Ende verschafft Hanya Yanagihara Klarheit.

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