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Gestrandet in der Gegenwart

Der Schauplatz ist Berlin, aber irgendwie auch nicht, denn die vielen Geschichten und Anekdoten, die der Ich-Erzähler in Matthias Nawrats viertem Roman von seinen zahlreichen Gastgebern zu hören bekommt, führen in die Zeitgeschichte und machen nachdenklich über die Gegenwart.

Von Daniel Grabner

Es gibt diese Situationen. Aus irgendeinem Grund hat sich ein Gespräch mit einer fremden Person ergeben, beim Warten auf den Bus zum Beispiel. Man ist gar nicht so recht in der Stimmung für eine Unterhaltung, doch die Person hört einfach nicht zu reden auf und beginnt noch dazu, sehr persönliche Dinge zu erzählen. Das beklemmende Gefühl, das sich dann in einem regt, befällt auch den namenlosen Ich-Erzähler in Matthias Nawrats Roman „Der traurige Gast“ regelmäßig. Auf 300 Seiten begleiten wir den Protagonisten, wie er seinem Leben als Schriftsteller in Berlin nachgeht und mal mehr und mal weniger freiwillig in die Gesellschaft von Fremden gerät, die ihm Anekdoten oder gleich ganze Lebensgeschichten erzählen.

Europa im 20. Jahrhundert

„Der traurige Gast“ ist der vierte Roman von Matthias Nawrat und ähnlich wie in seinem großartigen letzten Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“, wird hier Zeitgeschichte anhand persönlicher Lebensgeschichten vermittelt. Die Geschichten der Fremden machen den eigentlichen Roman aus, der nur lose zwischen den Erzählungen verbunden ist. Sie führen ins Europa des 20. Jahrhunderts, in die Zeit der Judenverfolgung in Polen während des 2. Weltkriegs und die Nachkriegszeit im geteilten Europa. Da ist die alternde, polnische Architektin Dorota, die sich als junge Frau aus dem kommunistischen Polen nach Westberlin abgesetzt hat und selbst nach Monaten immer noch sofort die Orientierung verloren hatte, wenn sie ihre Wohnung verließ.

Buchcover von Matthias Nawrats "Der traurige Gast"

Rowohlt

„Der traurige Gast“ von Matthias Nawrat ist im Rowohlt Verlag erschienen.

„Es muss eine sehr spezifische Form von Neglekt gewesen sein, bei der mein Gehirn plötzlich jede räumliche Orientierung verweigerte. Es sabotierte alles, was ihm diese Aufgabe erleichtert hätte. Wenn ich aus dem Haus ging, prägte ich mir, minutenlang vor dem Eingang stehend, die Farbe der Haustür ein. Sobald ich aber am Ende der Straße um die Ecke gebogen war, konnte ich schon nicht mehr sagen, welcher Farbton es gewesen war.“

Unsichere Gegenwart

Eine Geschichte kommt vom des Lebens überdrüssigen Rumänen Eli, der im Berlin der 80er-Jahre in eine alte Lagerhalle eingeschlossen wird, beinahe erstickt, und gerade in dieser Situation neuen Lebensmut schöpft. Eine andere kommt von Dariusz, dem ehemaligen Chirurgen, der als Tankwart arbeitet und mit strahlenden Augen vom glücklichsten Jahr in seinem Leben erzählt, jenem Jahr, als er, um dem Militärdienst zu entgehen, von Polen nach Westdeutschland flüchtete.

„Lange habe ich mich nicht getraut, es so zu denken, aber das erste Jahr in Bayern war das schönste Jahr in meinem Leben. Als im Durchgangslager in Friedland alles geklärt und ich in Landshut bei meiner Tante war, als ich - in einem Klassenzimmer mit Türken und Russen - einen Sprachkurs begann und mir mein erstes Auto kaufte - einen schwarzen Golf -, da fühlte ich plötzlich, dass alles möglich war.“

Die Charaktere, auf die der Erzähler trifft, wirken irgendwie in Berlin gestrandet und scheinen ihr Leben bereits gelebt zu haben. Aber „Der traurige Gast“ ist nicht einfach eine Aneinanderreihung von diesen Lebensgeschichten. Immer wieder bricht auch die Gegenwart in die Handlung des Romans ein. Meistens dann, wenn sich der Protagonist von den Erzählungen löst, wieder alleine ist und - während die Gespräche noch in seinem Kopf nachhallen - durch Berlin flaniert. Es ist das Berlin rund um den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt im Dezember 2016, durch das sich der Ich-Erzähler irritiert bewegt. Und es ist das Deutschland, in dem die AfD drei Monate später bei der Landtagswahl in Sachsen 25% der Stimmen erhält. Es ist eine Zeit der Verunsicherung und des Populismus, von Klimawandel und Menschen auf der Flucht. Es ist unsere Zeit.

„Der traurige Gast“ ist ein ruhig erzählter, feinsinniger Roman und vielleicht der nachdenkliche Versuch diese Gegenwart durch Biografie und Zeitgeschichte zu begreifen, sie einzuordnen, sich in ihr zu verorten.

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