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Szenenbild "The Kindness of Strangers"

Per Arnesen

berlinale

Be kind, mein Kind!

Die letzte Berlinale unter der Leitung von Dieter Kosslick setzt mit dem Eröffnungsfilm „The Kindness of Strangers“ auf Optimismus und Humanismus. Zynisch sein und Schwarzmalen ist ja bekanntlich die leichtere Übung.

Von Pia Reiser

Am Gepäckband am Berliner Flughafen steht neben mir ein Herr mit Garbadinhosen, einem Rauledermantel mit Pelzbesatz und Hut und pfeift - ich schwöre - die Melodie aus Griegs „In der Halle des Bergkönigs“. Jene kleine, unheimliche Melodie, die sich durch Fritz Langs „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) zieht und die - wenn man den Trailern vertrauen darf - wohl auch in David Schalkos Neuinterpretation des Films als Serie, die auf der Berlinale gezeigt wird, auftauchen wird. Ich weiß schon, ich suche überall nach Filmbezügen und meine selektive Wahrnehmung ist spot on und messerscharf, aber den Herren und seine gepfiffene Melodie kann man nicht mit selektiver Wahrnehmung rationalisieren, das ist schon ein kolossal guter Beginn für meine Berlinale. Vielleicht auch eine irre gute und aufwändige Marketing-Kampagne, taktische Griegsführung, quasi.

Udo Kier in "M - Eine Stadt sucht einen Mörder"

ORF/Superfilm/Ingo Pertramer

Udo Kier in „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“

Der deutsche Festivalgigant reitet zum letzten Mal unter Direktor Dieter Kosslick ein. 2017 fordern Regisseure und Regisseurinnen einen Neuanfang der Berlinale - unter ihnen auch Maren Ade und Fatih Akin. Ab nächstem Jahr gibt es bei der Berlinale-Leitung eine Doppelspitze, noch aber heißt der Chef am Platz hier Dieter Kosslick und der Platz heißt Marlene-Dietrich-Platz, hier steht mit dem Berlinale-Palast das Zentrum des um Glamour bemühten Festivaltrubels.

Hier (wieso gibt es in Wien eigentlich keinen Romy-Schneider-Platz, rein tourismusmäßig muss Romy Schneiders Verdienst um die Inszenierung Österreichs als pittoreskes Örtchen gleich nach dem von Mozarts kommen), also am Marlene-Dietrich-Platz auf jeden Fall ein logistisch durchgeplanter Ameisenhaufen, der brummt. Rot behübschte Absperrungen, rot angeleuchtete Bäume. Hier wuselt grad niemand durch, der nicht entweder einen Berlinale-Badge um den Hals baumeln hat, eine Sicherheitsweste trägt oder bei der Polizei ist. Außer halt Lone Scherfig, die dänische Regisseurin am Weg zur Pressekonferenz ihres Films „The Kindness of Strangers“, der die Berlinale gestern Abend eröffnet hat.

Szenenbild "The Kindness of Strangers"

Per Arnesen

Ich bin dem Film von Beginn an zugetan, weil ich erstens die meisten Filme von Scherfig mag (Allen voran: „Their Finest“) und zweitens weil der Titel prominent in Tennessee Williams „A Streetcar named desire" vorkommt“, wo die desillusionierte und sich in Illusionen verlierende Southern Belle schließlich meint I’ve always depended on the kindness of strangers und wenn ich wen mag, dann Tennessee Williams.

Southern Belles gibt es hier allerdings weit und breit keine. Im Zentrum des Personenreigens, der zwar in New York spielt, aber ein völlig neues New York erschafft, steht Zoe Kazan als zweifache Mutter aus Buffalo, die eines Morgens ihre beiden Söhne einpackt und vor dem gewalttätigen Ehemann nach New York flieht. Die drei haben kein Geld, keinen Unterschlupf, keine Verwandten. Und schnell auch kein Auto mehr. Suppenküchen, Notschlafstellen und eben die kindness of strangers ermöglicht ihnen das Überleben.

Die Fremden, die hier helfen, straucheln aber selbst auch. Andrea Riseborough (mir fällt keine Schauspielerin ein, deren Gesicht die Leinwand so zum Flirren bringt) verausgabt sich als Krankenschwester in einem sozialen Zweitjob und leitet eine Therapiegruppe, Jeff (Caleb Landry Jones, meine Damen und Herren!) verliert einen Job nach dem Anderen und schließlich seine Wohnung, doch auch ihn fängt Alice auf. Lone Scherfigs Drehbuch setzt auf zahlreiche Zufälle, wie diese Figuren sich begegnen und kennenlernen. Was woanders schnell allzu beliebig und erzwungen aussehen würde, besticht bei Scherfig durch entwaffnende Leichtigkeit. Jedem Anflug von Zynismus müsste es bei diesem Film so gehen wie dem Obernazi in „Indiana Jones: Jäger des verlorenen Schatzes“, bei der Öffnung der vermeintlichen Bundeslade: Komplett-Zerschmelzung, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

Szenenbild "The Kindness of Strangers"

Per Arnesen

Was macht die obdachlose junge Frau also in New York: Sie stiehlt Kleider, um sich dann elegant angezogen auf Empfängen einzuschleichen und die belegten Brötchen in ihre Taschen zu kippen, als Essen für ihre Kinder. Mit hochgestecktem Haar, einer großen schwarzen Sonnenbrille und einem ärmellosen schwarzen Kleid wird Rose zu einer Holly Golightly, die aber in Manhattan andere Dinge zu tun hat, als in die Auslage von Tiffany zu schauen.

Lone Scherfigs Film hat etwas Zeitloses und auch etwas Märchenartiges, das liegt vor allem an einem Raum, der jeder dieser Figuren einmal Schutz, Wärme oder einen Wodka bietet. Inmitten von Manhattan liegt der „Winter Palace“, ein russisches Restaurant, das auch schon mal bessere Tage gesehen hat, doch dessen heimelige Abgeranztheit, die dicken Vorhänge, der offene Kamin, der schiefe Dielenboden sind ein safe space, ein Rettungsanker.

Das New York in „The Kindness of Strangers“ ist weit entfernt vom New York von, sagen wir mal, Woody Allen oder gar von den glänzenden Inszenierungen der Stadt in rom coms. Lone Schwerfig erzählt von Armut, häuslicher Gewalt, Arbeitslosigkeit, doch sie schafft es auch hier, sich einen Grundoptimismus zu bewahren, ohne Dinge zu beschönigen oder gar zu romantisieren. Das Drehbuch strapaziert ein paar Mal die Geduld des Publikums in Bezug auf unglaubwürdige plot points, doch ich kann dem Film seine kleinen Schwächen nicht wirklich übelnehmen.

In „The Kindness of Strangers“ steckt die Überzeugung, dass in der Menschheit doch ein Kern Grundgutes steckt. Und, dass Bildung und Kultur ein vortrefflicher Grundbaustein dafür sind , wie wir miteinander umgehen. Rose nimmt ihre Kinder in die Bibliothek mit, Timofey sieht man nie ohne ein Buch unter dem Arm und wenn aus einem Konzerthaus die Klänge von Smetanas „Die Moldau“ herübergeweht werden, dann hält man einen Moment inne. Dass das schwieriger zu inszenieren ist, als eine Geschichte darüber, wie schrecklich der Zustand der Welt ist, ist auch klar. Einen grundoptimistischen Film als Eröffnungsfilm für den Festivalgiganten Berlinale auszuwählen ist vielleicht sogar mutiger, als einen Ausflug in die Düsternis zu nehmen.

Szenenbild "The Kindness of Strangers"

Per Arnesen

Bei der Pressekonferenz nach dem Film sieht Caleb Laundry Jones mit kurzen Haaren, Schnauzer, Sakko mit kleinen Lederapplikationen und einer Bolo Tie aus wie eine bizarre Mischung aus christlich-sozialem Landbürgermeister und Südstaaten-Cop, herrlich. Die Filmwelt braucht wieder viel mehr wunderbare Weirdos wie ihn. Am Samstag treffe ich Lone Scherfig zum Interview und werd’ sie fragen, ob sie wohl Jones und Andrea Riseborough für ihren Film haben wollte, nachdem sie „Get Out" und „Mandy“ gesehen hat.

Durch das Einkaufszentrum neben dem Berlinale Palast tappst inzwischen ein junger Mann in einem Bärenkostüm und kleine Spatzen fliegen von Bagelbröseln zu Pommesresten, auch das berlinalige Berlin hat was Märchenhaftes. Und heute morgen frage ich mich, ob wohl einige, die gestern bei der Eröffnung des Films waren, die Botschaft verinnerlicht haben, die eh schon im Titel steckt - also wir reden jetzt noch nicht einmal von Hilfsbereitschaft, sondern von einer freundlichen Aufmerksamkeit, die man an den Tag legen kann. Denn - ich sag’s ungern, aber in Sachen it takes strength to be gentle and kind irrt Morrissey. Die Tür zum Hotel, in dem das Pressezentrum untergebracht ist, hält mir eine Dame auf, obwohl ich noch ein stückweit hinter ihr bin. Gotcha, denk ich mir, du hast doch sicher den Film gestern gesehen und - na klar, hat sie das, wird mir klar, als ich näherkomme. Es ist Anke Engelke, die die Eröffnung der Berlinale gestern moderiert hat.

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