„Vice“ revolutioniert auf der Berlinale die US-Komödie
Von Petra Erdmann
Regisseur Adam McKay hat am Montagabend vieles bewiesen. Etwa, dass sich mit einem blast from the past eine Genre-Revolution in Hollywood anzetteln lässt. Seine brillante Dramödie „Vice“ verblüfft als ein Hybrid aus genialer Machtstudie und einem subversiven character movie. Steve Carrell gibt einen obszönen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Sam Rockwell setzt den unverkennbaren Trübe-Tassen-Blick von George W. Bush auf.
Das Grandiose: Nie überschreitet „Vice“ die rote Linie zur Karikatur. Am Ende ist man über sich selbst erschrocken, dass einem Dick Cheney ganz und gar nicht unsympathisch ist. Dann schneit Cheney- Darsteller Christian Bale viel zu spät und frisch erschlankt in den Pressekonferenz-Raum. Der Brite nuschelt im walisischen Akzent, wie sich die eklatante Gewichtszunahme für seine Rolle angefühlt hat. Er ist sich in Hollywood vorgekommen „wie ein Ochsenfrosch, eine Bulldogge, oder gar ein Walross.“
Für „Vice“ hat sich Christian Bale hat sich ein Golatschengesicht antrainiert. Im Oval Office schiebt sich der Vize-Präsident Plundergebäck in den Mund. Dann beginnt der Glatzkopf elegant zu taktieren, die Administration, das Militär und die Außenpolitik gleichermaßen zu dirigieren.

Matt Kennedy / Annapurna Pictures, LLC. All Rights Reserved.
Christian Bale und Sam Rockwell als Dick Cheney und George W. Bush im Oval Office
Christian Bale performt ein zutiefst menschliches und gelassenes Chamäleon Dick Cheney. We get it all: Vom jungen Rauf- und Saufbold, der ein Leben lang seiner cleveren Frau Lynne Cheney (Amy Adams) hinterherdackelt, über den sorgenden Familienvater, der auf eine Kandidatur verzichtet. Denn seine lesbische Tochter verpulvert er nicht als mediales Kanonenfutter. Der Mann aus Wyoming war ein machtversessener Strippenzieher im Weißen Haus, ein Mastermind des Irak-Krieges, ein Waterboarding-Anhänger, der Islamophobie mit einer aberwitzigen Terrorismus-Paranoia salonfähig gemacht hat.
Die hohe, bedrückend komische Kunst von Drehbuchautor und Regisseur Adam McKay ist es, einen gewissenlosen republikanischen Machtapparat zu durchleuchten. Das kommunizierende Leinwandgefäß heißt stellvertretend Dick Cheney. Er hat sowohl die Watergate-Ära unter Richard Nixon durchtaucht, als auch hunderttausende Tote aus den drei Golfkriegen unter der Bush-Dynastie überlebt.
Stilistisch fulminant orchestriert Adam McKay die Dekadenz der Macht. Mit historischem Archivmaterial, Doku-Reenactments, entrückten shakespeare’schen Dialogen und überraschend bizarren Erzählreinsprengseln, wie die eines anonymen US-Soldaten, erweist sich „Vice“ als ein unmoralisches Meisterwerk des politischen Kinos. Da kann auch der frühe Michael Moore einpacken. Das Zeitalter des smarten Infotainments auf der großen Leinwand kann mit „Vice“ endlich beginnen.

Berlinale
Christian Bale auf dem Weg zur Pressekonferenz
Adam McKay hat mit seinem anarchischen Weggefährten Will Ferrell mit absurden Medien- und Familiensatiren wie „Anchorman“ und „Step Brothers“ das komplexe Politikgeschehen noch außen vor gelassen. Doch nun führt kein Weg mehr daran vorbei. Das hat der „Vice“-Regisseur auf der Pressekonferenz betont.
„Mit unseren Komödien haben wir immer versucht, das, was in der Welt passiert, irgendwie mit einzubeziehen. Dann ist der Moment gekommen, wo wir uns an der nackten Wahrheit bedienen mussten und diese zu versuchen, clever in unseren Filmen zu verpacken. Die Welt ist so krank geworden! Ich habe den Film ‚The Big Short‘ geschrieben als 2008 der Finanzmarkt weltweit kollabiert ist. Das hat zu gewaltsamen Unruhen geführt. Alles hat sich seitdem verändert. Auch in mir“, und damit auch Adam McKays Rezeptur geniale Filme zu machen.
Zensur? Von der Komödienrevolution und zur Kulturrevolution
Rund 400 Filme werden am internationalen Filmfestival in Berlin gezeigt. Das macht die Berlinale zum größten Publikumsfestival der Welt. Das letzte Jahr unter der Leitung von Dieter Kosslick, präsentiert sich die Berlinale mit einem abgespeckten Wettbewerb.
Seit gestern konkurrieren nur mehr 16 Filme um den Goldenen Bären für den besten Film. Denn kurzfristig ist der Beitrag des Chinesen Zhang Yimou ausgefallen. Technische Probleme bei der Postproduktion von „Yi miao zhong – One Second“ seien aufgetreten, heißt es offiziell. Andere Quellen munkeln von Zensur, weil das Drama die Mao Zedongs Kulturrevolution zum Thema macht.
Auch der chinesische Film „Better Days“ von Derek Kwok-Cheung Tsang in der Nebenreihe Generations wurde überraschend zurückgezogen. Die beide Berlinale-Premieren könnten auch dem neuen Zensurgesetz in China zum Opfer gefallen sein. Denn alle Produktionen, die im Ausland gezeigt werden sollen, müssen zuerst von der Behörde überprüft werden. Das kann sich schon zwei Jahre hinziehen. So läuft „The Shadow Play“ von Lou Ye nun heuer auf der Berlinale.
Selbstzensur war gestern
„Zahle 2.000 für eine Therapie, nachdem ihr Schluss gemacht habt. Sexuelle Nötigung: Gehe fünf Schritte. Schwangerschaft: Setze zwei Runden aus, Essstörung: Verliere zwei Lebenspunkte. Du gewinnst, wenn du am Schluss noch lebst.“ Eva Collé ist ein Social-Media-Star. Seit sie 14 ist, macht die Italienerin ihr Privatleben auf Instagram und in einem Blog für ihre Fans öffentlich. Die Filmemacherinnen Giogia Malarasi und Pia Hellenthal haben dem unangepassten Model, der frechen Sexarbeiterin, dem queeren Junkie und feministischem Tomboy eine Dokumentation gewidmet. Und was für eine!

Janis Mazuch / CORSO Film
„Searching Eva“ beeindruckt als Generationenporträt, in der kein Privatleben mehr existiert und man mit der digitalen Selbstinszenierung freien Eintritt in jede Wohngemeinschaft bekommt. „Searching Eva“ ist ein bezaubernd irritierendes Dokument. Es ist im Nirgendwo oder zwischen Larry Clarks „Kids“, MTV The Real World und den schmuddelig schönen Oberflächen eines David Hamilton angesiedelt. Don’t trust anybody, not even yourself! Start a revolution!
Dem Österreicher Michael Stütz, dem Deutschen Andreas Struck und der Spanierin Paz Lázora aber - kurz, dem neuen Kuratorenteam der Panorama-Reihe - kann man in Sachen Queer- und Independent Film blind vertrauen. Bis die Bären am Samstag Abend losgelassen werden, kann man abseits des Berlinale-Wettbewerb-Getöses auf unbekannterem cineastischem Terrain radikaler abschweifen.
Publiziert am 12.02.2019