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Sieger Berlinale

APA/dpa/Jens Kalaene

Das Kino gewinnt, zumindest gestern Abend

Der Goldene Bär geht an „Synonymes“ von Nadav Lapid und bei den besten SchauspielerInnen gibt es eine richtige Überraschung. So mittelmäßig manche Kritiker den diesjährigen Wettbewerb nannten, so klar sind die Jury-Entscheidungen nachvollziehbar.

Noch acht Nächte bis zur Oscar-Nacht! Die französische Schauspielerin Juliette Binoche hat einen Oscar zuhause und ist dieses Jahr die Jury-Vorsitzende bei der Berlinale gewesen. Zu Beginn der Filmfestspiele erkundigt sie sich in Berlin, ob die Bären, die als Preistrophäen verliehen werden, ganz aus Silber sind und erzählt, das ihr kleiner Sohn am Oscar gekratzt hatte und unter dem Gold ist der Oscar grau.

Die kleinen, rund zweieinhalb Kilo schweren Bären sind aus Bronze und die Berliner Bildgießerei Noack fertigt sie an. Die Bronze wird auf 1200 Grad erhitzt, in Form gebracht und dann bekommt der Bär eine Gold- bzw. Silberschicht als Fell vom Galvanisierer. Nadav Lapid könnte das jetzt überprüfen: Der israelische Regisseur und Drehbuchautor hat den besten Film der Berlinale gemacht, so die Jury.

Nadav Lapid mit „Synonymes“

Für „Synonymes“ geht der Goldene Bär an die Produzenten des Films, in dem ein Israeli nach Paris geht, um alle Verbindungen zur Heimat zu kappen. Der radikale Wunsch und Versuch, eine Identität aufzugeben und Franzose zu werden, hat überzeugt und die Geschichte basiert zudem auf autobiografischen Erfahrungen.

"Synonymes"

Guy Ferrandis/ SBS Films

Vor knapp 20 Jahren, ein Jahr nach seinem obligatorischen Militärdienst brach Nadav Lapid sein Philosophiestudium und seine Arbeit als Autor für ein Magazin plötzlich ab und landete zehn Tage später in Paris – ohne Plan, nur mit dem dringenden Wunsch, in Paris zu leben und zu sterben und kein Israeli mehr zu sein. „Das war eine dringende, ja sogar fast gewaltvolle Entscheidung, die eigene Identität aufzugeben. Ich wusste, es würde nicht reichen, woanders hinzufliegen. Am schwersten ist es mir gefallen, die Sprache aufzugeben. Ich habe nicht mehr Hebräisch gesprochen. Ich musste Wörter finden und habe in Synonymen gebrabbelt“, so der Regisseur. Als Nadiv Lapid den Goldenen Bären entgegennimmt, will er bei seinem Dank daran erinnern, „auch die Wut, den Zorn und die Ablehnung als die Gefühle, die sie sind, zu erkennen - nämlich starke Gefühle der Bindung und der Nähe“, so Nadiv Lapid.

„So Long, My Son“ mit den besten SchauspielerInnen!

Als Favorit für den Goldenen Bären und damit den besten Film galt „So Long, My Son“ von Wang Xiaohuai. Drei Jahrzehnte der chinesischen Geschichte begleitet man in diesem Film ein Paar, dessen einziges leibliches Kind beim Spielen in einen Staudamm gefallen und ertrunken ist. Der Regisseur sagt über seinen Film, dass er das Leben der chinesischen Menschen von heute beleuchtet. Das Drama ist weit mehr als Kritik an der Ein-Kind-Politik und wer „By the rivers of Babylon“ im Soundtrack hat, weiß, was er tut.

"So long my son"

Dongchun Films

„Die ganze Welt sollte für immer Liebe und Emotion spüren“, ist der Wunsch Wang Xiaoshuais und seine Hauptdarstellerin Yong Mei dankt ihm: „Vielen Dank, dass Sie mich in diesen seltenen Club hineingeschoben haben!“. Denn welch schöne Überraschung: Unmittelbar nachdem ihr Filmpartner Wang Jingchun als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, wird Yong Mei ihr Silberner Bär als beste Schauspielerin der 69. Berlinale überreicht.

Starke deutsche Filme

Zwei der stärksten Beiträge zum Wettbewerb kamen aus Deutschland, doch würde eine Jury einen Film aus dem Austragungsland der Berlinale auszeichnen? Fatih Akins „Gegen die Wand“ fällt einem da ein. Akins Serienmörderfilm „Der Goldene Handschuh“ ging gestern leer aus.

Doch um das fulminante Drama „Systemsprenger“ und um das eigenwillige Drama „Ich war zuhause, aber“ kam die Jury nicht herum. Angela Schanelec macht seit über zwanzig Jahre Filme. Sie spricht in langsamen Bildern, auf die man sich einlassen muss. „Wer Schanelecs Filme scheut, der scheut das Kino“, urteilte ein Kritiker des Spiegels und man muss ihm recht geben. Man muss warten, bis die Bilder kommen und im Laufe des Films fügt sich das Puzzle. Etwa, wenn ein Hund einen Hasen jagt und darauf noch ein Esel geschnitten wird, der ihm zusieht. „Ich dachte an die Bremer Stadtmusikanten. Das Märchen handelt von Tieren, die von Menschen nicht mehr gebraucht werden und die sich zusammentun, in ein Haus ziehen und in der Gemeinschaft nicht zu überwältigen sind, sondern stark“, führt die Regisseurin aus.

"Ich war zuhause"

Nachmittagfilm

Schanelec und ihrer Hauptdarstellerin Maren Eggert gelingt es, ein Innenleben zu offenbaren. Man sieht eine Frau, Mutter zweier Kinder, die ein gestörtes Verhältnis zur Außenwelt hat und die sich nicht mehr sicher ist, ob sie noch die Sprache der Außenwelt spricht. Es ist das Leben nach der persönlichen Katastrophe, das weitergehen muss und doch nicht funktionieren will. Sehr schön ist die Passage, in der Wahrhaftigkeit in der Kunst in einem Monolog auf einem Gehsteig verhandelt wird. M. Wards Coverversion von „Let’s Dance“ von David Bowie ist zu hören, als diese Frau über eine Friedhofsmauer geklettert ist und auf einem Stein liegen bleibt. Für „Ich war zuhause, aber“ geht der Silberne Bär für die beste Regie an Angela Schanelec.

Sandra Hüller kniet nieder

Nora Fingscheidt arbeitete vor zwölf Jahren als Praktikantin bei der Berlinale und tagträumte davon, dass eines Tages das Plakat eines ihrer Filme auch hier hängen würde. Jetzt hat sie den Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis für „Systemsprenger“, einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, gewonnen.

Am Ende von „Systemsprenger“ hört man Nina Simone "Ain’t Got No I Got Life“ singen und ist – so es einem wie vielen der 1.500 ZuschauerInnen im Friedrichstadt Palast geht – komplett eingenommen, überrumpelt, entsetzt und weiß zugleich: Die Geschichte ist herzergreifend, fulminant und konsequent erzählt und die zehnjährige Hauptdarstellerin Helena Zengel würde alle an die Wand spielen, könnte nicht auch das Erwachsenen-Ensemble mit ihr mithalten. Dieses Mädchen kann schauen, den Mund verziehen und schlicht spielen, dass es keine alles erklärenden Dialoge braucht. Sandra Hüller, diesjähriges Jury-Mitglied, ging vor Helena Zengel auf die Knie und gratulierte ihr für ihre Darstellung von Benni.

Systemsprenger

kineo Film Weydemann Bros

Benni – kurz für Bernadette – darf nicht bei ihrer Mutter leben und hat derartige Gewaltausbrüche, dass sie aus einer Wohngruppe fliegt und in der nächsten gleich vorab abgelehnt wird. Die Absagen für Plätze sind im zweistelligen Bereich. Das Kind sprengt das System der Kinder- und Jugendwohlfahrt und als ZuschauerIn stapft man mit ihr durch die Institutionen und bangt mit der Beamtin, die mit dem Fall betraut und vertraut ist. „Erzieher!“ brüllt das Kind vor Wut. „Mama!!!“ schreit es von einer Anhöhe, aber es folgt kein Echo. Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt bringt die Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe auf die wundesten Punkte und erzählt eine universelle Geschichte, die zwar vorhersehbar verläuft, doch das ist nur konsequent. Anders wäre es Kitsch.

François Ozon dankt Gott

François Ozon dankt Gott gestern Abend im Berlinale-Palast. Sein Wettbewerbsbeitrag „Grâce à Dieu“ ist „der Versuch, die Stille um den Missbrauch von Kindern in großen Institutionen aufzubrechen“. Der französische Regisseur hat eine Mission und die geht auf. Denn auch wenn sein Film aus rechtlichen Gründen nur an einem der Berlinale-Tage gezeigt werden konnte, da ein Priester die Vorführungen des Werks verhindern wollte, waren alle Vorstellungen restlos ausverkauft und schon im Supermarkt wurde nicht der Film diskutiert, sondern, dank des Films, über Missbrauch gesprochen. Ozon hat für seinen Film den Fall des Priesters Bernard Preynat aufgegriffen, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Buben angeklagt wurde, wie im Katalog der Berlinale zu lesen ist. Pia Reiser hat „Gelobt sei Gott“ gesehen.

Szenenbild "Gelobt sei Gott"

Jean-Claude Moireau

Die gesellschaftspolitische Dimension ist auch “La paranza die bambini“ eingeschrieben. Die Kinoadaption von Roberto Savianos Roman „Der Clan der Kinder“ wurde für das beste Drehbuch befunden. Maurizio Braucci, Claudio Giovannesi und Roberto Saviano haben zusammengearbeitet, das winning Zweierteam von „Gomorrha“ also erweitert. Saviano kann aufgrund seiner Enthüllungsgeschichten über die Mafia und deren Strukturen als Journalist und als Autor nicht mehr frei in Neapel unterwegs sein. Er lebt seit Jahren unter Schutz von Sicherheitsleuten und hat auch in Berlin Polizeischutz. Im HAU 1 sprach er über seine Arbeit, kritisierte den italienischen Innenminister Matteo Salvini vehement und die vielen italienischen ZuhörerInnen im Publikumsraum waren sichtlich erleichtert über seine Worte und Analysen. Bei der Preisverleihung widmete Roberto Saviano den Bären den Rettungskräften im Mittelmeer und jenen Menschen, die in Neapel auf den Straßen viele Leben retten.

"La parannza dei bambini"

Palomar

Freude auch bei österreichischen Filmschaffenden: Nikolaus Geyrhalters neue Dokumentation „Erde“ hatte in Berlin Weltpremiere und wurde mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Und der Stummfilm „Die Kinder der Toten“, den das Nature Theater of Oklahoma in der Obersteiermark mit Laiendarstellern im Rahmen des steirischen herbst 2018 drehte, und der von der Ulrich Seidl Filmproduktion fertiggestellt wurde, bekam den Preis der FIPRESCI-Jury. Beides sieht man hoffentlich auf der Diagonale!

Heute Abend im Fernsehen

Um 20.15 auf ORF eins ist heute die TV-Premiere für David Schalkos in Berlin euphorisch besprochene Serie „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“. Pia Reiser schreibt von „einen atmosphärischen Sog, dem man sich nicht entziehen kann“. Die Fortsetzung folgt am 20. und 22. Februar.

Schnell noch hier ins Kino in Berlin, den goldenen Berlinale-Trailer fotografieren! Denn im kommenden Jahr leiten Carlo Chatrin und Mariette Rissenbeek die Filmfestspiele. Und das Erste, das neue Leitungen meist bringen, ist ein neues Corporate Design. Die 70. Berlinale wird von 23. Februar bis 1. März stattfinden und in diese Woche fallen auch die Oscars 2020!

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