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Bildrahmen mit leerem Bild, Twitter-Profilbild von Jeremy Corbyn

Led By Donkeys

robert rotifer

Zu früh gehamstert?

Zeit, einmal den irren Optimisten in mir sprechen zu lassen: Warum die Abspaltung frustrierter Remainers aus der Tory- und der Labour-Fraktion auf Umwegen doch noch den Weg zu einem zweiten Referendum ebnen könnte.

Von Robert Rotifer

Jetzt bin ich grad fast zwei Wochen – zuerst aus beruflichen, dann aus rein freizeitlichen Gründen - außerhalb des Engen Landes, und schon kenn ich mich nimmer aus. Ich tröste mich mit dem Beispiel des britischen Außenministers Jeremy Hunt, der gestern bei einem als Charme-Offensive gedachten Staatsbesuch in Ljubljana Slowenien einigermaßen beleidigend als ehemaligen „sowjetischen Vasallenstaat“ bezeichnete (Jugoslawien gehörte zu den blockfreien Ländern).

Zum Foto: Die Anti-Brexit-Initiative Led By Donkeys hat sich auf das Plakatieren peinlicher Statements und Tweets von Leuchten der Brexit-Kampagne spezialisiert. Im Fall von Jeremy Corbyn eine weiße Fläche als Sinnbild seines Schweigens bzw. als Einladung an die Bevölkerung, ihre eigene Meinung dazu kundzutun. Als Brexit-Gegner_innen das Plakat mit Parolen besprühten, wurde es von der Labour-dominierten Gemeindeverwaltung Islington wegen angeblichem Vandalismus wieder weiß gemacht. Daraufhin plakatierte Led By Donkeys zur Vermeidung solcher “Missverständnisse” eine gerahmte Version des mit Protestbotschaften besprühten Plakats.

So desorientiert bin ich immerhin noch nicht, aber als ich aus London weg fuhr, gab es noch eine Fraktion weniger im britischen Parlament. Und das ist ja noch längst nicht alles. Britannien Ende Februar ’19 bietet:

Konservative Abgeordnete, die Minister_innen ihrer eigenen Regierung zum Rücktritt auffordern, weil jene einen harten Brexit ausschließen wollen. Dazu konservative Minister_innen, die ihrer eigenen Premierministerin eine zweimonatige Frist zum Abschied stellen. Während jene Abgeordneten, die aus Mays konservativer Fraktion in die neugegründete Independent Group übergelaufen sind, ihr versprechen, sie bei Gelegenheit NICHT abzuwählen.

Keine Angst, es liegt nicht an euch: All das lässt sich nicht verstehen, auch nach mehrmaligem Lesen nicht.

Popular Front versus People’s Front

Zugegebenermaßen hab ich meine Charakterisierung der „Independent Group“, wie sich die derzeit noch führungs- und programmlose neue Fraktion nennt, hier auch vom falschen, nämlich Ex-Tory-Ende her aufgezäumt. Tatsächlich begann diese Geschichte ja letzten Dienstag mit sieben, dann acht zentristischen Abtrünnigen von Labours Seite, die seit ihrem Abgang von Corbyn-treuen Stimmen allesamt als korrupte Agent_innen des Neoliberalismus entlarvt wurden. Ja, in der Zwischenzeit gibt es schon ein ganzes Twitter-Genre für Labour-Aktivist_innen, die ungeliebte Abgeordnete dazu auffordern, es ihren verräterischen Kolleg_innen gleichzutun – und so die eigene Fraktion weiter zu dezimieren.

Anmerkung 1, für Monty Python Fans: Alle Witze über die Judäische Volksfront/Volksfront von Judäa wurden bereits gemacht.

Anmerkung 2: Drei Absätze darüber, wie das alles mit dem Umgang mit Antisemitismus in der Labour Party zusammenhängt, von dem insbesondere die zur Independent Group abgewanderte Luciana Berger betroffen war, hab ich jetzt gerade wieder gelöscht, weil sie uns hier vom Kernthema abbringen. Bezeichnenderweise zitierte Ian Austin, der neunte, am Freitag ausgetretene Labour-Abgeordnete zwar als Grund dafür so wie Berger den mutmaßlich wachsenden Antisemitismus in der Partei, gesellte sich aber als Brexit-Anhänger nicht zu der von ihrem Pro-Remain-Standpunkt charakterisierten Independent Group.

Popular Vote versus People’s Vote

Wer mit Leidenschaft vorgebrachte Manifestationen des inneren Widerspruchs sucht, muss jedenfalls gar nicht in den Tiefen der fraktionsinternen Auseinandersetzungen in sozialen Medien schürfen. Eine der absurderen Geschichten der vergangenen Woche las ich am Dienstagabend auf der Guardian-Website über „Befürchtungen“, Theresa May könnte die Abspaltung der ersten paar Labour-Abgeordneten zu einer überfallsartig abgehaltenen Neuwahl nützen. Monatelang hatte praktisch jede_r Labour-Abgeordnete auf die Frage nach seinem/ihrem Standpunkt zu einem zweiten Referendum die Parteilinie runtergeratscht, dass zu allererst einmal eine Neuwahl hergehöre. Und jetzt war das plötzlich eine Bedrohung? Man durfte sich fragen: Wenn ihr keine Neuwahl und kein Referendum wollt, wozu gibt es euch dann überhaupt?

Um dann zwei Tage später zu lesen, dass Jeremy Corbyn sich im allerletzten Moment nun doch noch in Richtung eines zweiten Referendums drehen könnte. Ein „popular vote“, sagt er bei einem Besuch in Brüssel (in bewusster Vermeidung des Kampagnenbegriffs „people’s vote“) sei „very much part of the agenda put forward by the Labour Party.“

Das hat durchaus seine perverse Logik: Corbyn hatte sich ja bisher nicht zuletzt deshalb gegen ein zweites Referendum verwehrt, weil er Zentristen wie Chuka Umunna oder Chris Leslie keinen innerparteilichen Triumph gönnen wollte.

Jetzt dagegen, wo jene sich in ihre Independent Group vertschüsst haben, fallen nicht bloß diese Bedenken weg. Ein Kurswechsel in Richtung zweites Referendum würde vielmehr der Independent Group ihr Alleinstellungsmerkmal rauben, das akute Risiko weiterer Abwanderungen aus der Unterhausfraktion verringern und die zunehmend verärgerte, beharrlich Remain-lastige Basis beruhigen (man munkelt von empfindlichen Rückgängen in den Mitgliederzahlen).

Und just in diesem Moment melden sich die Liberal Democrats (ja, die gibt’s ja auch noch!) zu Wort, die nächste Woche einen neuen Antrag für ein zweites Referendum einbringen wollen, nur um daran zu erinnern, dass sie die Idee als erste hatten.

Plötzlich scheint dem Optimisten in mir also ein später Schwenk in Richtung einer neuen Abstimmung, die vor kurzem mangels Mehrheit im Unterhaus noch völlig undenkbar schien, dann doch wieder als eine (wenn auch weit entfernte) Möglichkeit.

Hamsterkäufe für den Fall eines harten Brexit hab ich auf meinem Urlaub trotzdem gemacht. Käse. Und Speck. Weil verlassen tu ich mich auf die Typen sicher nicht.

PS: In normalen Zeiten hätte ich hier einen Nachruf auf Peter Tork von den Monkees geschrieben. Das heb ich mir nun für meine nächste Heartbeat-Sendung auf.

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