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Die neue Rolle der Mutter in der Literatur

Ob eine Frau Kinder kriegen will oder nicht, entscheidet sie selbst. Ein „Nein“ ist oft immer noch ein Tabu. Die kanadische Autorin Sheila Heti setzt sich in ihrem Roman „Mutterschaft“ intensiv und anregend damit auseinander - und schließt sich einer neuen Bewegung von Literatur an.

Von Lisa Schneider

Soll ich ein Kind bekommen?“ Mit dieser Frage konfrontieren sich viele Frauen in ihren 30ern. So auch die unbenannte Protagonistin im neuen Roman der kanadischen Schriftstellerin Sheila Heti, „Mutterschaft“. Das Schreiben soll die Antwort bringen.

Die weibliche Hauptfigur ist zu Beginn des Romans 36 Jahre alt. Sie ist Schriftstellerin und lebt in Toronto, gemeinsam mit ihrem Freund Miles. Sie war schon einmal verheiratet, die Ehe hat nicht funktioniert. Miles hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung.

Das Leben ist zu kurz

Die Entscheidung, ob die beiden jetzt zusammen ein Kind bekommen sollen, überlässt er ihr. Und während sie überlegt, verrinnt die Zeit: „Diese Zeitspanne umfasst etwa dreißig Jahre. Anscheinend muss in diesen dreißig Jahren - von vierzehn bis vierundvierzig - alles erledigt werden im Leben einer Frau. Sie muss einen Mann finden, Babys zeugen, sich einen Beruf suchen und darin vorankommen, Krankheiten meiden und auf einem privaten Konto genug Geld ansammeln, dass ihr Mann nicht ihre Lebensersparnisse verspielen kann. Dreißig Jahre sind nicht genug für ein ganzes Leben.

Cover "Mutterschaft" von Sheila Heti

Rowohlt

„Mutterschaft“ von Sheila Heti wurde übersetzt von Thomas Überhoff und erscheint bei Rowohlt.

Es ist eine Sinn- und Lebenskrise. Sie dreht sich nicht nur um den vermeintlichen Kinderwunsch, sondern auch um das Dasein der Protagonistin als Künstlerin, als Schriftstellerin. Überspitzt formuliert sie die Gleichsetzung von Kindern und Büchern - beide als von Menschen geschaffen. Wieso das eine mehr wert sein soll als das andere, gründe im weiblichen Dasein: „Und doch fühle ich mich am lebendigsten, wenn ich Kunst mache; wenn ich mich um andere kümmere, fühle ich mich nicht so lebendig. Vielleicht muss ich mich weniger als Frau mit dieser frauenspezifischen Aufgabe vorstellen denn als Individuum mit einer eigenen spezifischen Aufgabe - also das Frausein nicht über meine Identität erheben.“

Die kinderlose, bedrohliche Frau

Hinzu kommt, dass die Protagonistin schon eine Abtreibung hinter sich hat. Sie erzählt von einer seltsamen Begebenheit, als sie in der Abtreibungsklinik war, und der Arzt ihr zugeraten hat, das Kind zu behalten. „Warum war es dem Arzt wichtig, dass ich eines bekam? Frauen müssen Kinder kriegen, damit sie beschäftigt sind. Wenn ich an all die Leute denke, die das Abtreiben unter Strafe stellen möchten, kann das wohl nur eines bedeuten - nicht, dass sie diesen neuen Menschen auf der Welt haben wollen, sondern wohl eher, dass die Frau sich mit der Kinderaufzucht beschäftigt, statt etwas anderes zu tun. Eine nicht mit Kindern beschäftigte Frau hat etwas Bedrohliches. Man hat das Gefühl, sie sei irgendwie unfertig. Was wird sie stattdessen machen? Was für einen Ärger?

Die (hier vor allem von Männern statuierte) Ablehnung von Abtreibung ist nur eine Form der Fremdbestimmung über den eigenen Körper. Die andere, nicht ganz so offensichtliche Fremdbestimmung ist der soziale Druck, der auf Frauen zwischen 30 und 40 Jahren einwirkt. Die Entscheidung, keine Kinder zu kriegen, hat es vor 50 Jahren genauso gegeben wie heute; wie Sheila Heti aber in ihrem Buch richtig hervorhebt, hat sich eines nicht geändert: Dass frau mit ihrer Entscheidung alleine dasteht. Dass sie, im Fall ihrer Protagonistin, Isolation und Einsamkeit empfindet, weil ihr Freundeskreis ein Leben mit Kindern - und somit ein völlig anderes als das ihre wählt.

Als Frau kannst du nicht einfach sagen, du willst kein Kind. Du musst schon einen ausführlichen Plan oder eine Vorstellung davon haben, was du stattdessen machen willst."

Viel schlimmer aber als das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, ist das ungewollte Mitleid. Nicht einmal die Möglichkeit zu bekommen, stolz zu seiner Entscheidung zu stehen. Sie wird aufgefordert, es doch auch zu probieren - im besten Fall, um auch gleich noch den „Mann an sich zu binden“. Es fehlt ihren Freundinnen nicht nur an Einfühlungsvermögen. Sie versuchen, selbstgerecht, ihre Lebensvorstellung auf alle anderen (Frauen) überzustülpen.

Ein literarischer „Gegen-Kanon“

Dass Sheila Hetis Roman schon vor der Übersetzung aus dem Englischen in europäischen Feuilletons auf- und abbesprochen wurde (und mittlerweile in 15 Sprachen übersetzt worden ist) zeugt von der hohen Nachfrage nach einer Auseinandersetzung mit dem Thema Mutterschaft.

In den letzten Monaten sind dazu viele Bücher erschienen: Etwa Brit Bennetts „The Mothers“, oder Daisy Johnsons „Everything Under“. Aber nicht nur im angloamerikanischen Sprachraum, auch die französische Schriftstellerin Leila Slimani hat sich dem Thema des Mutterseins in „Dann schlaf auch du“ gewidmet, ebenso wie die österreichische Autorin Gertraud Klemm in „Muttergehäuse“. All diese Bücher rühren an den schattigen Seiten des Kinderkriegens, der Frage nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In ihrem Aufsatz „Why All The Books About Motherhood“ nennt die amerikanische Schriftstellerin Lauren Elkin diese und ähnliche Bücher zusammengefasst einen „Counter-Canon“. Einen, der sich in Anspruch und Erzählform abhebt von gängiger Ratgeber- oder Erziehungsliteratur.

Frauentag auf FM4

Unter dem Motto „The Future Is Feminist“ liefert FM4 die Playlist zum Weltfrauentag 2019. Von 6 bis 19 Uhr begleiten uns Musikerinnen aus den letzten 50 Jahren Popgeschichte – von A wie Anna Calvi, B wie Beyoncé bis zu Z wie Zola Jesus.

Redaktionell widmen wir uns am Frauentag den österreichischen Bürgermeisterinnen, der ersten weiblichen Marvel-Filmheldin „Captain Marvel“, der neuen Platte von Amanda Palmer, dem neuen Roman „Mutterschaft“ von Sheila Heti - und US-Shootingstar Lizzo beantwortet uns Fragen zu Body-Positivity und Feminismus im Pop. Außerdem besucht uns unser FM4 Artist of the Week Yasmo, um über ihre eigenen Heldinnen zu sprechen.

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