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Cover "Die Spiegelreisende - Die Verlobten des Winters"

Suhrkamp / Insel

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Frankreichs neueste Fantasy

Soeben ist mit „Die Verlobten des Winters“ der erste Band der Romantetralogie „Die Spiegelreisende“ auf Deutsch erschienen. In Frankreich wird Christelle Dabos schon als die neue J.K. Rowling gehandelt.

Von Lisa Schneider

Prangt schon auf dem Buchrücken der Vergleich mit der großen Saga um den beliebtesten und bekanntesten Zauberschüler des Jahrhunderts, Harry Potter, darf man skeptisch sein. Wieviele Fantasyromane sind nach J.K. Rowlings Welterfolg erschienen, mit denen Ähnliches versucht wurde?

Christelle Dabos’ Romantetralogie - sie ist gerade dabei, den vierten, abschließenden Band zu schreiben - ist aber in Frankreich bereits ein Besteller. Der erste Band, „Die Verlobten des Winters“, erhielt den Preis des Jugendbuchwettbewerbs von Gallimard Jeunesse, später auch den „Prix de l’imaginaire“, einen Preis für fantastische Literatur. Jemand, der mit Harry Potter, mit der Zauberschule Hogwarts, dem Wildhüter Hagrid und Zaubersprüchen wie „Expecto Patronum“ aufgewachsen ist, erhofft sich dementsprechend viel. Die deutsche Übersetzung des ersten Teils der „Spiegelreisenden“ ist soeben auf Deutsch erschienen.

Magische Postapokalypse

Im Mittelpunkt der Erzählung steht Ophelia. Sie ist eine junge Frau, klein, schmächtig, ungesellig, klug, loyal. Ihre steten Wegbegleiter sind ihre graue Brille, die je nach Gefühlslage die Gläser sich verfärben oder beschlagen lässt, ebenso wie ihr lebendiger Schal, der sich wie eine Art Hausschlange gemächlich um ihren Hals schmiegt.

Christelle Dabos beschreibt eine postapokalyptische Welt: In einem kurzen Prolog zum Roman erfahren die Leser*innen, dass Gott aus Zorn auf die Menschheit die Erde geteilt hat - 21 zersplitterte Teile schweben frei im All. Sie werden im Roman „Archen“ genannt.

Eine dieser Archen ist Anima - dort ist Ophelia und ihre Familie zuhause. Jeder Arche sitzt ein Familiengeist vor, der als Herrscher oder Herrscherin regiert. Im Fall von Anima ist das Artemis, die Arche ist als Matriarchat eingerichtet.

Christelle Dabos

Catherine Hélie/Éditions Gallimard

Christelle Dabos

Ophelia besitzt besondere Kräfte. Sie kann Gegenstände lesen: Wenn sie die Hände auf etwas legt, erfährt sie durch eine Vision alles über seine früheren Besitzer. Das macht sie zur perfekten Mitarbeiterin im Museum auf Anima. Außerdem kann sie durch Spiegel gehen - und bewegt sich so von Ort zu Ort.

Sehr zu ihrem Missfallen wird die zurückhaltende Ophelia über ihren Kopf hinweg verlobt. Sie soll Thor heiraten, der wiederum auf einer anderen Arche, dem Pol, lebt. Wie schon der Name verrät, ist das eine Arche weit oben im Norden, ständigem Eis und Schnee unterworfen. Thor - groß, blond, zynisch und herrisch - entspricht ganz dem Bild, das sich Ophelia von den Menschen auf Pol macht.

Fliegende Tassen, überdimensionale Hunde, Mord & Totschlag

Im ersten Teil der Saga begleiten wir Ophelia auf ihrer Reise nach Pol, entdecken nach und nach diese neue, seltsame und teilweise sehr brutale Welt. Menschen, die in ihren Tierpelzen Bären oder Wölfen gleichen; Temperaturen, bei denen die Kälte gefühlt durch die Buchseiten in die Finger kriecht. Außerdem stehen Intrigen, Machtkämpfe und Ehrenmorde auf der Hausordnung - Umstände, die die mit einem unumwundenen Wunsch nach Gerechtigkeit ausgestattete Ophelia nur schwer verstehen kann.

Einer strengen Hierachie unterworfen, kämpfen auf Pol verschiedene Klane um die Vorherrschaft. Sie besitzen jeweils andere magische Fähigkeiten, so können etwa die „Drachen“ ihr Gegenüber nur mit der Kraft ihres Geistes schlagen oder je nach Laune auch gänzlich zerfleischen. Es ist ein psychologisches wie physisches Gemetzel: Die Politik ist ein schmutziges Geschäft.

Der erste Teil der Saga über „Die Spiegelreisende“ von Christelle Dabos heißt „Die Verlobten des Winters“ und erscheint in deutscher Übersetzung von Amelie Thoma im Suhrkamp / Insel Verlag.

Und nicht nur Blut kommt gut am Großbildschirm: Der Roman liest sich, als hätte die Autorin gleich beim Schreiben an die filmische Umsetzung gedacht. Wenn Ophelia etwa einen verzauberten Raum der Himmelsburg betritt, aus dessen Zimmerdecke es schneit, ohne dass die Flocken je den Boden erreichen. Wenn sie auf einem Schlitten zu Thor gebracht wird, gezogen von Hunden, die größer sind als Pferde. Wenn Figuren nicht altern, aus Hüten Rosen wachsen oder sich die Brille der tollpatschigen Ophelia wieder einmal selbst repariert.

Wenn Vergleiche scheitern

Das Identifikationspotential mit der jungen, herzensguten Protagonistin ist hoch; dass sich eine Figur, die sich selbst nie als Heldin bezeichnen würde, zu einer wird, ist eine der stärksten Parallelen zum Harry-Potter-Universum.

Wenn es bei Harry Potter aber um das Bekämpfen des einen großen Bösen geht, einer übermenschlichen Macht, der die sterbliche und die Zauberwelt nur durch gemeinsames Handeln entgegentreten können - kämpft Ophelia gegen zwar ähnlich grausame, aber sehr menschliche Probleme. Das zeigt sich auch darin, dass es so gut wie keine „guten“, sprich vertrauenswürdigen, Charaktere in Christelle Dabos’ Roman gibt. Allein auf der Suche nach Gerechtigkeit, in einer vor Gier, Eifersucht und Machtgeilheit zerfressenen Welt. Jeder ist sich selbst der nächste.

Auch in vielen anderen Punkten scheitert der Vergleich der „Spiegelreisenden“ mit Harry Potter. Er muss aber auch nicht sein. Christelle Dabos’ Geschichte steht durchaus für sich: einerseits als spannender, fantasievoller Entwurf einer neuen, magischen Welt; und andererseits und vor allem als gelungene Geschichte einer jungen Frau, die sich ihre Stimme in einer rachsüchtigen, grausamen Gesellschaft erst erkämpfen muss. Das wirkt oft so realistisch, dass einen nur die schwebenden Teetassen wieder auf den Boden der (magischen) Welt zurückholen.​

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