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Theresa May

APA/UK PARLIAMENT/AFP/JESSICA TAYLOR

ROBERT ROTIFER

„Make it stop“ - zur Not auch ohne Vote

Seit Theresa Mays gestriger Niederlage im Unterhaus regiert in Großbritannien nur mehr eine mit großer Mehrheit: Die Ermüdung. Was, wenn diese sich produktiv nutzen ließe? Zum Beispiel, um den ganzen Brexit-Kram einfach abzublasen.

Von Robert Rotifer

Vorgestern Nachmittag hab ich hier was geschrieben, das war bis zum Abend schon alter Hut.

Ich hatte spekuliert, dass Theresa May, wissend, dass sie ihren Deal nicht durchs Unterhaus bekommt, stattdessen über ein von britischer Seite erwünschtes Ideal des Austrittsabkommens abstimmen würde, um dann mit einer Parlamentsmehrheit im Rücken die EU unter Verhandlungsdruck zu setzen. Aber diese fette Nachtigall hatte man bis nach Brüssel trapsen gehört, und der Vogel wurde umgehend via Buzzfeed medial aus der Ferne abgeschossen (mit meiner Metaphernschleuder).

Wenn alle nur mehr sterben wollen

May fuhr also stattdessen nach Straßburg und kam von dort mit einem Zusatzpapier zum bereits bestehenden Austrittsabkommen zurück, das nicht einmal ihren eigenen Attorney General überzeugen konnte. Der Deal musste erneut scheitern, wenn auch diesmal „nur“ mit einer Mehrheit von 149 Stimmen.

Nun haben wir es hier mit einem gänzlich irrationalen, von Emotionen gesteuerten Prozess zu tun (schon in der britischen Erklärung zur Auslösung des Austrittsprozesses nach Artikel 50 war vom „Gefühl“ einer fehlenden Souveränität die Rede). Und wiewohl man dabei die nächsten möglichen Entwicklungen voraussagen kann, weiß man doch nie, wie sie sich als vollendete Tatsachen anfühlen werden.

Als Theresa May gestern nach der Niederlage mit erschöpfter, heiserer Stimme zum x-ten Mal ihr Gebet von der Pflicht zur Vollstreckung des Volkswillens herunterleierte, ging ein verzweifeltes Raunen durch meine Timeline: „Genug! Es reicht! Ich will sterben! Ich kann’s nicht mehr hören.“

Bilder aus Großbritannien

Robert Rotifer

Und mit einem Mal hatte sich meine Sicht auf die Dinge wieder einmal völlig verändert.
Alles war anders, als ich es gedacht hatte.
Eine gänzlich unvorhergesehene Wendung.

Hoffe, dass ich euch mit diesen Cliffhanger-Phrasen ein paar Absätze lang hinhalten kann, denn ich muss den Weg zur Epiphanie erst der Reihe nach erklären:

Heute also wird das Unterhaus über die „No Deal“-Variante abstimmen. Zur Vorbereitung darauf wurde eine neue Liste von Zöllen veröffentlicht, die Großbritannien im Fall eines harten Brexit streichen oder senken würde, um ein sprunghaftes Ansteigen der Preise zu verhindern.

Die Vorsitzende der britischen Industriellenvereinigung Carolyn Fairbairn bezeichnete das als einen „Holzhammer für die Wirtschaft“: „Was wir da hören, ist die größte Veränderung im Handel, die wir seit dem 19. Jahrhundert durchgemacht haben, ohne Konsultierung der Wirtschaft oder Zeit sich vorzubereiten“, sagte sie, „Das ist keine Art ein Land zu regieren!“

Die irische Regierung schäumt sowieso vor Wut. Schließlich müsste Irland im Fall einer solchen radikalen Divergenz der britischen und irischen Zollräume die offene Grenze sofort schmuggeldicht machen.

Aber nur dieses eine Mal wäre ich geneigt, hier die britische Regierung ein wenig in Schutz zu nehmen, denn „No Deal“ wird aller rational begründbarer Voraussicht nach heute mit großer Mehrheit abgelehnt. Das will auch der für Zölle zuständige Schatzkanzler Philip Hammond so.

Und diese Art von Aufregung sollte wohl nicht nur in den Abgeordneten das Bewusstsein der Dringlichkeit dieses Votums fördern, sie bereitet auch den Hintergrund für die Tage danach vor.

Schließlich steht danach logischerweise das Ansuchen um eine Verlängerung der Austrittsfrist an, und zwar gegen den Widerstand der Minderheit der Hardcore-Brexiteers von der Tory-internen sogenannten ERG (European Research Group), die aktiv auf einen harten Brexit hinarbeitet. Da ist es wahrlich keine schlechte Idee, mit einer Vorschau auf dessen Konsequenzen endlich (eh nur zweieinhalb Jahre zu spät) den Mythos von einem reibungslosen Übergang auf den Handel nach WTO-Regeln zu entzaubern.

Bilder aus Großbritannien

Robert Rotifer

Anatomie eines Aufschubs

Aber auch wenn die Notwendigkeit einer Fristverlängerung offensichtlich wird, bedarf es dazu erst eines Konsenses:

1) Wie lange soll aufgeschoben werden? Mehr als zwei Monate würde bedeuten, dass Großbritannien an den EU-Wahlen teilnehmen muss. Aber innerhalb von zwei Monaten lässt sich nicht mehr viel erreichen, denn...

2) Wofür soll aufgeschoben werden? Donald Tusk hat bereits erklärt, dass die EU einen Aufschub nur gewähren wird, wenn ein konkreter Plan dahinter steht, der die britische Position entscheidend verändert. Das könnte sein: Eine Neuwahl oder ein zweites Referendum.

Ersteres ist in zwei Monaten durchführbar, würde aber sicher keine Mehrheit für das bestehende Austrittsabkommen erzeugen. Und falls es die nicht gäbe, bräuchte es erst recht einen längeren Aufschub (inklusive Teilnahme an den Europa-Wahlen).

Für die Abhaltung eines zweiten Referendums, des sogenannten „People’s Vote“, würde man, wie Expert_innen der LSE schon letzten Herbst errechneten, mindestens 24 Wochen brauchen.

Auch in diesem Fall müsste Großbritannien also um mindestens ein halbes Jahr Aufschub ansuchen und Europa-Wahlen abhalten. Ein noch größeres Hindernis: Für ein zweites Referendum besteht keine Parlamentsmehrheit und der öffentliche Druck ist schlicht nicht stark genug.

Man kann sich nun gut vorstellen, wie ein gelähmtes, weil völlig gespaltenes Unterhaus an diesen Fragen scheitern und in den nächsten zweieinhalb Wochen trotz des Votums gegen No Deal in Richtung genau eines solchen Ausgangs schlittern wird.

Es gibt allerdings zwei Möglichkeiten, diese Kalamität zu verhindern, und eine davon scheint mir wie gesagt erst seit gestern Abend plötzlich ziemlich plausibel:

Einerseits kann May versuchen, den Deal in den letzten Tagen vor dem Desaster ein drittes Mal durchs Unterhaus zu jagen. Anderseits kann das britische Unterhaus einseitig den gesamten Austrittsprozess einfach absagen („revoke Article 50“).

Das klang bis gestern für meine Ohren wie die Unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten.
Aber wie Jolyon Maugham (jener Jurist, der Großbritanniens Recht auf ein Annulieren des Austrittsprozesses beim Europäischem Gerichtshof erstritten hat) gestern per Tweet erklärte, wäre die für heute Abend zu erwartende Mehrheit gegen „No Deal“ nicht gesetzfähig, solange darin nicht die automatische Aussetzung des Artikel-50-Prozesses enthalten ist.

Eine gesetzliche Verankerung des Anti-No-Deal-Votums könnte so also zu einer automatischen Annulierung des Austritts führen.

„Du Optimist, du reitest ein fliegendes Einhorn“, sagten einige meiner englischen Freund_innen dazu, als ich gestern in den sozialen Medien meinen „Revoke“-Testballon steigen ließ. Nie würde das Unterhaus es wagen, die vielbeschworene Volksmeinung des Jahres 2016 einfach zu ignorieren und ohne weitere Abstimmung in der EU zu verbleiben.

Aber mein Punkt (ich hatte versprochen darauf zurückzukommen, here we go) ist, dass sich seit gestern die emotionale Landschaft – vielleicht entscheidend – verschoben zu haben scheint.

„Fuck it“ vs. „Get on with it“

Am 23. März wird eine große Anti-Brexit-Demo in London stattfinden. Hunderttausende werden kommen und das „People’s Vote“ fordern, so wie sie das auch letzten Juni schon taten. Damals gingen 700.000 auf die Straße, was Theresa May jedoch völlig unbeeindruckt ließ.

Weil sie genau weiß, dass die Remainer-Blase auch in ihren aufgeregten Massen immer noch weit kleiner ist als die der apathischen Millionen, die die ganze Sache leid sind und einfach nur „Get on with it!“ fordern.

Wie Umfragen immer wieder zeigen, glaubt ein erheblicher Teil dieser am Brexit-Diskurs längst verständlich desinteressierten Menschen, die Phrase „No Deal“ bedeute keine Veränderung, sondern ein Verbleiben im Status Quo. Diese Leute mit den bisher immer als „Project Fear“ weggewischten, jetzt bereits unausweichlich präsenten Tatsachen eines harten Brexit zu konfrontieren, ist eine Verantwortung, der sich Politik und Medien nicht länger entziehen können.

Aber vielleicht muss das Aufrütteln ja auch nicht mit einer Aufforderung zum Widerstand einhergehen. Vielleicht - nennt mich einen Zyniker - verbirgt sich in der Ermüdung der Bevölkerung ja auch eine Chance.

Bilder aus Großbritannien

Robert Rotifer

Könnte einer, der „Get on with it“ sagt, nicht auch relativ leicht dazu zu überzeugen sein, auf ein ebenso wegwerfendes „Enough is enough“, „Just make it go away“ oder „Alright, fuck it then“ umzuschwenken?

Tatsächlich ist „Make it stop“ einer der Slogans, die die „Remain“-Kampagne für ein mögliches zweites Referendum abtestet. Die Frage ist nur, ob sich dieses populäre, aber negative Sentiment in eine positive Stimme für einen EU-Verbleib übersetzen lässt. In anderen Worten: Der Ausgang eines zweiten Referendums ist keineswegs eine ausgemachte Sache, sondern könnte erst recht in ein noch größeres Desaster münden.

Zugegeben, wenn der Brexit dagegen einfach sang- und klanglos abgeblasen wird, so als wär nichts gewesen, wird es auch viel Ärger geben. Die nationale Rechte wird in Whitehall randalieren, die Brexitiere werden schäumen. Aber auch unter letzteren gibt es einige, die lieber den Artikel 50-Prozess beenden als mit Theresa Mays Deal oder No Deal leben wollen. Man braucht mit der Analyse eines enttäuschten Brexit-Hardliners wie Paul Collier aus dem Tory-Kampfblatt The Spectator nicht übereinstimmen („As Angela Merkel fades away, Sebastian Kurz will replace her as Europe’s most influential leader“), um zur gleichen Schlussfolgerung zu kommen: „Revoke Article 50“ als „einziger Ausweg aus dem Brexit-Albtraum.“

Was soll’s, bis morgen ist wieder alles anders. Aber heute sagt mir mein großer Zeh, dass die ganze traurige Geschichte am Ende darauf hinauslaufen könnte. Und das würde mich gar nicht einmal ärgern.

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