Das Album nach dem Hype: Sigrid und ihr Debüt „Sucker Punch“
Von Lisa Schneider
Sprüche, die auf T-Shirts, Jutebeutel oder sonstige Kleidungsaccessoires gedruckt werden, kommen und gehen. Ein Dauerbrenner seit 2017 lautet: „Don’t Kill My Vibe“. Ein guter Satz, das englische Äquivalent zum Wienerischen „Sei einmal leiwand“. Nicht alle wissen vielleicht, wessen Slogan sie da auf der Brust tragen: „Don’t Kill My Vibe“ ist erste Single und Karrierezünder für die damals 20-jährige Sigrid Solbakk Raabe aus Norwegen. Anwärterin auf Aurora-Nachfolge? Eine gerechtfertigte Vermutung: Wer Pop-Drums wie Phil Collins einsetzt, hat seine Hausaufgaben gemacht.
Sigrid hat diesen mittlerweile über 50 Millionen Mal allein auf Spotify gestreamten Song bereits im Kopf gehabt, als sie eine seltsame Sitzung mit zwei älteren, männlichen Producern verlässt. „You shut me down, you like the control / You speak to me like I’m a child“ singt sie. Die zwei Produzenten hätten sie eingeladen, mit ihr über ihre Musik zu sprechen, und hätten sie dann weder respektiert noch zu Wort kommen lassen. Der Song, der rauskam, ist aber nicht diesen beiden Herren, sondern Sigrid selbst gewidmet. Fun fact: Besagte Männer haben sich nie über den Song, der sich ironischerweise offenbar ganz gut vermarkten und verkaufen lässt, geäußert.
Alles eine Frage der Strategie
Wie verändert sich das Leben, wenn der eigene Name von 0 auf 100 auf großen Plakatwänden prangt, der Song auf jeder Party läuft, und die Major Labels anklopfen? Es hat sich alles, aber dann auch irgendwie nichts verändert, erzählt Sigrid im Interview. Zumindest nicht, was das Songschreiben angeht. Das Team, mit dem sie zusammenarbeitet, ist größer geworden - aber das war’s.
Zynismus gegenüber hochgehypten Popphänomenen? Sigrid sieht sich nicht als Popstar - eher als Pop Musician, wie sie betont. „Star“, das hat so einen seltsamen, glitzernden Beigeschmack. Die im Business vorherrschenden Beauty-Standards etwa lehnt sie ab. Das freut die Presse, weil es mal was Anderes ist. „Erfrischend authentisch“. „Ungeschminkt.“ „Jeans und T-Shirt“. Es stimmt, damit unterscheidet sich Sigrid etwa von Ariana Grande. Nur, ob mit Schminke oder ohne: hinter allem steckt eine Promotionstrategie.
Und diese hat seit 2017 alle Register gezogen. Langsam, aber beständig wurde auf das gerade veröffentlichte Debütalbum „Sucker Punch“ hingeteast, mit zwei EPs und ein paar Remixes als Follow-Ups, ebenso mit der ein- oder andere Single, alle Marke Hitfabrik.
Geschichten aus dem Leben und für alle
Der Titelsong des Albums, und auch gleich der erste von neun, ist nach klassischen Popformeln perfekt gelungen. Die Strophe tight, die Geschichte zum Date, wir wollen ausgehen. Große Erwartungen an die Liebe wie an den Song, der Refrain löst dann mit von Synthesizer aufgepumpter Euphorie alles ein.
Wer am großen Pop der 90er Freude hat, oder wem die erwähnte Musik von Ariana Grande zu sehr ins Rhythmische statt ins Melodiöse abdriftet, bei dem wird Sigrid einen Nerv treffen. Sie wiederholt die radiotaugliche Formel Song um Song, inhaltlich gibt’s Geschichten aus ihrem Leben zu hören - aber immer so gewählt, dass Personen schnell vertauscht und die Universalität der erzählten Story somit immer gegeben ist.
Nach dem ersten, guten Treffen also auf „Sucker Punch“ kommt es zur Einsicht auf „Strangers“: „Like strangers / Perfect pretenders / We’re falling head over heels/ For something that ain’t real“. Powerpop, ganz gerade, dröhnt gut, Gemeinschaftsgefühl. „Ja! Genau das hab’ ich auch schon erlebt!“ ruft da das innere Ich, dessen Geschmack noch vor kurzer Zeit als „Guilty Pleasure“ abgetan worden wäre.
Die Weiterentwicklung in Sigrids Songwriting merkt man vor allem bei Songs wie „Side Of You“ oder „Don’t Feel Like Crying“. Beide borgen die String-Sections von Coldplays „Viva La Vida“ (und wurden für letztgenannten sogar von dem selben italienischen Musiker, Davide Rossi, eingespielt). „Don’t Feel Like Crying“ erzählt eine Geschichte aus zwei Perspektiven: Der Party-Pomp ist diesmal nur ein Ablenkungsmanöver für den längst möglich hinausgezögerten Moment an der Tür, wenn alle in die Nacht davonströmen. Und nicht viel bleibt außer der leeren Bierdosen, Angst und Einsamkeit.
Musikalisch der interessanteste Song auf „Sucker Punch“ bleibt aber „Business Dinners“. Quirky und abgehackt startet er mit sarkastisch hingeworfener Aussprache und einem tatsächlich erfrischenden Einsatz seltsamer Störgeräusche. Es gibt sogar kleine beinahe Rap-Parts. Thematisch steht „Business Dinners“ in direkter Nachfolge von „Don’t Kill My Vibe“, erzählt von den seltsamen Verirrungen im Showbusiness, die so gut wie immer mit der respektlosen Behandlung junger Frauen zu tun hat. „Oh, you just want me to be / Sweeter, better, angel / You just want me to be / Pictures, numbers, figures / Deeper, smarter.“

Universal
„Sucker Punch“, das Debütalbum von Sigrid, erscheint via Universal.
Keine Überraschung - oder: keine leeren Versprechungen
„Sucker Punch“ fließt gut durch die Boxen. Es ist vielleicht kein Album für immer, aber für den Moment, in dem sich neun sehr ähnliche Pophits hintereinander gut anfühlen. Genau an der Stelle könnte sich ein leiser Vorwurf Richtung Vermarktungsstrategie einschleichen, frei nach „alle Ecken und Kanten abschleifen“. Stimmt aber nicht. Es war bei Sigrid nicht wie bei der unlängst besprochenen, ebenso kometenhaften Karriere der amerikanischen Folkpop-Musikerin Maggie Rogers (die übrigens gleich, wenn man „Sigrid“ bei Youtube eingibt, vorgeschlagen wird). Deren Authentizität sich zwischen fabelhafter erster Single hin zum Album mit Major-Deal verabschiedet hat.
„Sucker Punch“ ist nämlich keine Überraschung. Es muss keine Versprechen halten, die es nie gegeben hat: Sigrid hat schon ihre allererste Single nach genau denselben kommerziellen Maßstäben konzipiert. Das ist sie, das ist die Musik, die sie machen will. Und es funktioniert in der ganz breiten Fläche, siehe „Don’t Kill My Vibe“.
Zum Geburtstag dann bitte ein Shirt mit Aufdruck „Sucker Punch“.
Publiziert am 21.03.2019