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Szenenbild "Una Primavera"

Valentina Primavera

Fremde Länder, private Untiefen

Man kann weit weg fahren, weiter als nur von Wien nach Graz. Schon bei der Eröffnung haben die Intendanten der Diagonale angekündigt, im Programm gäbe es Filme, die einen in weit entfernte Länder führen, in Länder auch, die gar nicht existierten.

Von Anna Katharina Laggner

Österreichische Filmemacher*innen fahren gern nach Graz, noch lieber aber reisen sie weit weg. Das Kurzdokumentarfilmprogramm 1 zeugt davon: Für „de fac-to“ haben die Filmemacherinnen Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter im ukrainischen Lemberg diverse Gedenkveranstaltungen, Kranzniederlegungen und Erinnerungsaufmärsche besucht und, keinem sich erschließenden Plan folgend, die Szenerie und Reden gefilmt. Der komischste Moment des Films ist allerdings eine Demonstration von jungen Antialkoholikern, die für eine trinkfreie Ukraine kämpfen. Die Sache scheint nicht mehrheitsfähig: Nicht einmal zehn Personen nehmen an der Demonstration teil.

Der zweite Film im Programm spielt auch in der Ukraine, konkret in Mariupol und handelt von „Anja und Serjoscha“, die keinen Job und keine Aussicht haben, dafür aber im öffentlichen Raum eine genderkritische Performance machen, bei der zwei, drei Menschen zuschauen. Die Tristesse, die der Film ausdrücken will, wirkt gekünstelt, man wird das Gefühl nicht los, dass Anja und Serjoscha sich der Existenz einer Kamera und einer Regisseurin zu jeder Zeit bewusst sind.

Anja & Serjoscha Szenenbild

Sixpackfilm

„Anja & Serjoscha“

FM4 bei der Diagonale:

  • Tägliche Diagonale Berichterstattung On Air,
  • Homebase Spezial am 20.3.: Nachhören hier.
  • Diagonale Awards Party – presented by FM4/In Kooperation mit sound:frame, Sa, 23.3., ab 23.00, Orpheum, Graz, Eintritt frei.

Live: Lylit (Wien), DJs: Sounds of Blackness (Wien), DJ-Kollektiv grrrls (Graz)

Der letzte Film im Programm („27. Februar“) schließlich spielt in einem Lager in Algerien, konkret bei den Sahrauis, also unter Menschen, die Opfer eines seit über 40 Jahren andauernden, naturgemäß undurchschaubaren, politischen Macht- und Annektionskampfes sind. Übrigens: Es wäre für die spätere Rezeption von österreichischen Kinoarbeiten hilfreich, würde es in der Schule ein Fach namens „Von der Welt vergessene Zwergstaaten, Kleinvölker und deren Probleme geben“.

Nach dem Programm treffe vor dem Kino auf Jurij Meden, Kurator im Filmmuseum und bei der Diagonale in der Jury für Dokumentarfilm. „Oh, the Austrians!“ meint er, als ich ihm von den weit entfernten Orten erzähle, an die mich die Filme gerade gebracht haben und die Frage formuliere, ob es nicht besser wäre, an Orten zu drehen, die einem kulturell, sozial, emotional näher seien. Nein, meint er daraufhin, das sei schon gut so, dass die österreichischen Filmemacher*innen da hinfahren, denn: „If they wouldn´t go, no one else would go there.“ Das österreichische Kino als Sprachrohr der vergessenen Enden der Welt! Ist aber (noch) eine Wunschvorstellung.

Stattdessen: Innenansichten.

Vor zwei Jahren hat „Was uns bindet“ bei der Diagonale den Großen Dokumentarfilmpreis gewonnen, ein Film, der von einem Familienleben erzählt, das es in seiner undurchschaubar komplexen Unlösbarkeit mit der Westsahara aufnehmen kann. Es handelte sich um die Familie der Filmemacherin selbst. Und auch bei der diesjährigen Diagonale gibt es Arbeiten, die versuchen, das Private in eine Form zu gießen, die auch für Fremde eine Gültigkeit haben könnte.

Szenenbild "Una Primavera"

Valentina Primavera

„Una Primavera“ (siehe auch Titelbild dieser Story)

Wobei, der Film „Una Primavera“ versucht das erst gar nicht, das Drama vor der Kamera ist viel zu groß, als dass hier noch eine Metaebene eingezogen werden müsste. Man erlebt mit, wie die Mutter der Regisseurin Valentina Primavera versucht, sich aus ihrer Ehe zu winden, von einem gewalttätigen Ehemann zu trennen und die bereits als Kind und Jugendliche erfahrene Indoktrinierung zu durchbrechen, nach der man tun müsse, was der Ehemann und die Schwiegermutter bestimmten. Es ist ein Gewaltakt, wie sich die Mutter gegen das Patriarchat aufbäumt und man kann ihn kaum mitanschauen. Wegschauen ist aber auch keine Option.

Intim bis ins Sexualleben und dem Aufbrechen der Rituale desselbigen wird es in „Szenen meiner Ehe“, wobei die Filmemacherin und Ehefrau in der gerade erwähnten Situation meint, das sei ihr nun doch zu privat. Sie, die sich von einem Mann und Kindern getrennt hat, um einen Mann zu heiraten, der sich seinerseits von Frau und Kindern trennte, versteht eigentlich nicht, warum sie sich in den jetzigen Ehemann verliebt, ihn geheiratet hat und nun mit ihm lebt (an getrennten Orten, aber das ist schon ein Problem).

Legitime Fragen fürwahr und wahrscheinlich auch nicht ungesund für das Fortbestehen einer Liebesbeziehung. Katrin Schlösser macht daraus einen ganzen Dokumentarfilm, ihren ersten überhaupt, sonst ist sie Filmproduzentin (u.a. Stefan Krohmers „Sommer 04“, Leander Haußmanns „Sonnenallee“, Helga Reidemeisters „Bilder aus dem Hintergrund“) und Professorin an der Kunsthochschule in Köln.

"Szenen meiner Ehe" Szenenbild

Öfilm

„Szenen meiner Ehe“

Katharina Copony erzählt auch von sich und ihrer Familie, am Originalschauplatz, einer Kaserne an der steirisch-slowenischen Grenze, allerdings arbeitet sie mit einem Off-Kommentar und Darsteller*innen. Ihre Großmutter hat die Kasernenkantine geführt, die Regisseurin selbst lebte mit ihrer Mutter als Kind noch dort. Der Film erzählt von drei Generationen von Frauen, die zwischen soldatischem Drill und dem Bier danach ein eigenes, scheinbar paralleles Leben führten. Er erzählt von Schwestern-, Mutter- und Großmutterverhältnissen und zeigt die großzügige, weitläufige, für Kinderspiele prädestinierte Architektur des Schlosses, in dem sich die Kaserne befindet. Mit ihrem überlegten, nicht allzu viele Emotionen zulassenden Kommentar aus dem Off ist „In der Kaserne“ wesentlich weniger aufwühlend und bedrängend als „Una Primavera“ und „Szenen meiner Ehe“.

"Hure x 552" Szenenbild

Anatol Bogendorfer

„Hure x 552“

Ein ganz anderes Beispiel von Aufarbeitung einer persönlichen Geschichte ist „Hure x 552“, der im Programm 1 der Schiene „Innovatives Kino“ läuft. Man sieht eine Frau im Profil, die das Wort „Hure“ ständig wiederholt. Es ist absurd, es nervt und man fragt sich, was die Frau überhaupt für ein Problem hat. Die Sache ist die: Nicht sie hat das Problem, sondern ein anonymer Poster, der ihr 552 Mal „Hure“ in das Kommentarfeld geschrieben hat. Die Frau vor der Kamera tut nichts anderes, als das Posting vorzulesen.

Nur Filme über Länder, die gar nicht existieren, habe ich noch nicht gesehen.

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