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Pro-Remain Plakate vor dem House of Commons

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Noch einmal Refreshen für die Endorphine

Theresa May gräbt sich weiter ein und beansprucht den Volkswillen für sich - gegen das eigene Parlament. Online formiert sich bereits der Widerspruch, am Samstag wird man ihn dann auf Londons Straßen sehen.

von Robert Rotifer

Als ich das letzte Mal geschaut hab, war die Site gerade wieder abgestürzt. „502 Bad Gateway. nginx.“ Das hat was Poetisches, was Symbolisches für den ganzen Brexit-Prozess, hilft aber niemandem (außer vielleicht dem Blog-Schreiber auf der Suche nach einem Einstieg).

Screenshot Petition

Robert Rotifer

Davor waren’s mehr als eine Million gewesen, die für ein sofortiges Abblasen des Artikel 50 unterschrieben hatten. Wahrscheinlich bin ich ja einer derer, die Schuld an den dauernden Abstürzen sind, weil ich seit gestern Abend den Refresh-Klick als Therapie einsetze. Endorphin-Ausstoß, wann immer die Zahlen nach oben klettern.

Ich hab hier ja schon seit einer Weile „Revoke“ als Ausweg aus der ganzen Bredouille herbei fantasiert, aber in den endlosen Analysen, die ich wie alle sich nach Erlösung sehnenden Junkies in diesem Land ständig konsumiere, war diese Variante des Exit vom Brexit bis jetzt immer tabu.
Das ist jetzt wohl vorbei. Millionen kann man nicht mehr ignorieren, oder?

Screenshot Petition

Robert Rotifer

Doch man kann, natürlich, aber immerhin haben wir es mit dieser Petition endlich in die BBC-Schlagzeilen geschafft. Wir sind jetzt ein Teil der Brexit-Erzählung, das können sie uns nicht mehr nehmen.

Grammatikalisch hätte man es wohl besser hinkriegen können, aber leisten wir uns einmal eine wörtliche Übersetzung des Petitions-Texts auf der für solche Zwecke eingerichteten Regierungs-Website:

„Die Regierung behauptet wiederholt, ein Ausstieg aus der EU ist der ‚Volkswille‘. Wir müssen dieser Behauptung Einhalt gebieten, in dem wir die Stärke des populären Unterstützung für einen Verbleib in der EU jetzt beweisen. Ein ‚People’s Vote‘ mag nie stattfinden, also wählen Sie jetzt.“

Ich weiß gerade nicht einmal, wer das geschrieben hat, aber es spielt eigentlich keine Rolle, denn als im Juli 2016 eine Petition für ein zweites Votum drei Millionen Unterschriften erreichte, stellte sich heraus, dass sie von einem Brexiteer aufgesetzt worden war, der mit einer Niederlage beim ersten Votum gerechnet hatte.

Die Stimmung hat sich seither freilich verändert, der Gung Ho-Brexit-Konsens jener fiebernden Tage ist längst verflogen, und die größte Werbung für eine radikale Lösung machte gestern Abend Theresa May mit ihrer Fernseh-Ansprache aus dem Führerinnen-Bunker in der Downing Street, in der sie aus der Deckung ihres Rednerinnen-Pults mit dem Löwen und dem Einhorn drauf dem Parlament die Schuld an der größten britische Verfassungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zuschob und sich selbst mit den Worten „Ich bin auf eurer Seite“ zur Fürsprecherin des Volkes gegen seine verräterischen Repräsentant_innen aufspielte (also genau die Leute noch einmal vor den Kopf stieß, die sie kommende Woche für sich gewinnen will - interessante Strategie).

„Oh please!“ Die Stimme des Volkes aus dem Off

Als wären wir so dumm, nicht zu wissen, dass es nach ihrem Deal, falls sie ihn dem Unterhaus beim dritten Mal tatsächlich abringen kann, die ganze Sache erst wirklich losgeht. Wenn nämlich nach dem Austrittsabkommen auf gründlich vergiftetem politischem Boden in nur zwei Jahren Übergangsfrist ein neues Handelsabkommen mit der EU ausverhandelt werden muss und ihre sturen roten Linien erst recht wieder alle vernünftigen Auswege blockieren.

Ungeachtet dessen zieht May mit ihrem stumpfen Plug unbeirrt weiter dieselbe Spur. Wir (also eigentlich das britische Wahlvolk, denn Leute wie ich bzw. Brit_innen im Ausland, die nach 15 Jahren Abwesenheit ihr Wahlrecht verloren haben, dürfen bei der Petition unterschreiben, auch wenn wir vom Referendum ausgeschlossen waren) seien des Brexit „müde“, erklärte sie, also werde sie „get on with it“. Und nachdem sie das gesagt hatte und in Richtung der holzgetäfelten Kabinettsräume abging, hörte man eine Frau aus dem Off leise und erschöpft „Oh, please!“ seufzen. Wenn in dieser Farce eine Stimme des Volkes sprach, dann diese.

Oder der alte Schlagzeuger von Blur, via Twitter, wie so viele andere auch. Hallo, Dave, verkrachter Labour-Aktivist, schön zu sehen, dass du auch noch da bist!

Das alles ist schon lange keine Komödie mehr. Vorgestern Abend ging ich auf den Parliament Square und mischte mich unter die Leute, die dort schon seit Wochen, im Fall des legendären Mannes mit dem blauen Europa-Zylinder Steve Bray seit zwei Jahren demonstrieren, und ich sah und hörte die Gelbwesten und sonstigen Hooligans, die unablässig „Stoppt die Verräter“, „Wir sind das Volk“ (kennen wir wo her) und „Wir sind nicht rechtsextrem, wir haben bloß recht“ schreien. Man erzählte mir Geschichten von Schubsereien, Spucken und Tritten, und ich sah die Polizei in sicherer Entfernung herumstehen. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass das alles bald ziemlich hässlich werden könnte.

Pro-EU Demonstrierende vor den Houses of Parliament

Robert Rotifer

Wohl noch nicht diesen Samstag, wenn sich der ursprünglich für ein zweites Referendum, in Anbetracht der vertrackten Lage aber de facto für „Revoke“ werbende „Put it to the People“-Marsch durch Londons Regierungsviertel wälzen wird. 700.000 waren’s beim letzten Mal, diesmal werden’s noch mehr sein.

Da fallen ein paar Gelbwesten (vorerst) nicht ins Gewicht. Die Brexiteers warnen seit langem schon – einigermaßen verantwortungslos – vor dem Volkszorn, der sich entladen werde, falls es keinen Brexit gibt. Die Petition und der Marsch rufen in Erinnerung: Das gilt für beide Seiten.

Als ich das hier abspeichere ist die Petition schon wieder „down for maintenance“.
„We know about it and we’re working on it. Please try again later."
Danke, aber es gibt demnächst kein "later“ mehr.

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