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Karte aus Jaroslav Rudiš "Winterbergs letzte Reise"

Luchterhand

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Von Schlachtfeld zu Schlachtfeld

Der tschechische Autor Jaroslav Rudiš hat ein Faible für Kafka, Eisenbahnen und Geschichte. Für seinen neuen Roman „Winterbergs letzte Reise“ tritt er an, 150 Jahre Geschichte zu bewältigen. Mit einem alten Baedeker-Reiseführer in der Hand ist ein 99-jähriger Mann mit seinem Altenpfleger unterwegs, ein längst vergangenes Europa zu erkunden.

Von Maria Motter

Er ist 99 und war der letzte Straßenbahnfahrer in Westberlin. Er hat drei Schlaganfälle überlebt, drei Ehen gehabt und ähnelt einer kleinen dicken Birne. Herr Winterberg ist die Hauptfigur im jüngsten Roman des tschechischen Autors Jaroslav Rudiš, der auch Deutsch spricht und zum ersten Mal eine Geschichte auf Deutsch geschrieben hat. Und welch eine Geschichte das ist!

Denn Herr Winterberg tritt an, ein Jahrhundert und dann gleich noch ein halbes weiteres an europäischer Geschichte vorzutragen. Winterberg leidet an historischen Anfällen. Immerhin besser als Hysterie, findet er. Die Vergangenheit und die Gegenwart prallen aufeinander, private Geschichte und das große Weltgeschehen fließen in der Erzählung ineinander.

Die ganze Freude des alten Mannes ist ein Baedeker-Reiseführer, aus dem er bis zur Erschöpfung seiner Zuhörerschaft und der LeserInnenschaft historische Gegebenheiten, Ereignisse und Fakten vorträgt. Und zwar in Zügen, die ihn zu den nebeligen Feldern nahe des tschechischen Dorfs Sadowa bringen werden wie nach Linz und Wien, weiter nach Brünn, Budapest und Zagreb. Nur nach Sarajevo fährt einzig der Flixbus.

Mit diesem Roman kann man sich jener europäischen Geschichte nähern, die man im Geschichteunterricht in kurzen Schlagworten abhakt. Um seine LeserInnen zu wappnen, lässt der studierte Historiker Jaroslav Rudiš seinen Herrn Winterberg immer wieder von der Schlacht von Königgrätz schwärmen.

Die Schlacht von Königgrätz war eine der blutigsten Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. 440.000 Soldaten standen einander gegenüber, die Armeen Österreichs und Preußens trafen auf einem Schlachtfeld im damaligen Böhmen aufeinander. Preußen gewann, die Habsburger büßten massiv an Macht ein.

Cover Jaroslav Rudiš "Winterbergs letzte Reise"

Luchterhand

„Winterbergs letzte Reise“ von Jaroslav Rudiš ist 2019 bei Luchterhand erschienen.

Für Lesungen kommt der studierte Historiker, Eisenbahnfan, Kafka-Band-Mitglied und Autor am 4. April nach Innsbruck und am 10. April nach Wien.

"... ja, ja, Sie haben recht, es geht um das Gleichgewicht, in Italien hat Österreich im Krieg 1866 mehrmals glorreich gesiegt, bei Königgrätz hat Österreich alles glorreich verloren, ja, ja, so muss es sein, so entsteht das Gleichgewicht, man muss nicht gleich Yoga machen, es reicht, wenn man historisch durchschaut, und Sie schauen schon historisch durch, lieber Herr Kraus .."

Landkarten mussten danach neu gezeichnet werden. Eine Landkarte hat auch Jaroslav Rudiš praktischerweise auf den Innenseiten des Bucheinbandes abgedruckt. Winterberg hat noch viel vor. Und das, obwohl der Mann eigentlich einen Altenpfleger als Sterbebegleiter zur Seite gestellt bekommen hatte. Der gebürtige Tscheche Jan Kraus verbringt die letzten Monate, Wochen und Tage mit Menschen. Winterberg hat er ins Leben zurückgeholt. Aus der sozialistischen Tschechoslowakei ist Kraus geflohen, just dorthin will sein Landsmann Winterberg wieder hin mit ihm. Winterberg will nicht sterben. Er will Berlin verlassen und verreist mit Jan Kraus, um den Mörder einer geliebten Frau zu finden. Eine Vorahnung stellt sich bald ein, doch ein Geheimnis will erst zuletzt preisgegeben werden.

Teilt man ein Faible für Geschichte mit dem Autor, so wird „Winterbergs letzte Reise“ zur literarischen Reise. Auch, wenn der Roman die gewalttätige Seite der europäischen Geschichte alles andere als ausklammert und Winterberg familiär bedingt großes Interesse an Toten, Feuerhallen und Friedhöfen hat. Dieser Roman macht auch klüger. Auch und gerade weil seine beiden Hauptfiguren nicht unbedingt die einfachsten Zeitgenossen sind. Wie sich diese beiden eigenwilligen Männer zusammenraufen, ist gute Unterhaltung.

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