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"Chaos" Filmstill

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diagonale

Die Siegerfilme fragen, was bleibt

Der beste Spielfilm und die beste Dokumentation der Diagonale 2019 handeln von unmittelbaren Folgen von Konflikt und Krieg. Und doch erzählen die Filmemacherinnen Sara Fattahi und Nathalie Borgers höchst unterschiedlich von Trauer und deren Bewältigung. Das Festival des österreichischen Films endet mit Überraschungen.

Von Maria Motter

Ihr Film verlangt seinem Publikum einiges ab. Das weiß Sara Fattahi: „Die ZuschauerInnen müssen wirklich auch mitarbeiten“. Denn der Samstagabend in Graz als bester Spielfilm der Diagonale 2019 ausgezeichnete „Chaos“ basiert auf den tatsächlichen Erfahrungen der beiden ProtagonistInnen. „Mein Film gibt diesen Menschen eine Stimme, um ihre Geschichten zu hören und auch zu fühlen, was sie fühlten“.

Das diesjährige Festival des österreichischen Films endet mit Überraschungen, gewinnen doch zwei Filme, die von den unmittelbaren Folgen von Krieg erzählen, jedoch dahin schauen, wo die Nachrichtenkameras bestenfalls einmal drüberschwenken.

Der beste Spielfilm

Nathalie Borgers + Sarah Fattahi Diagonale Gewinnerinnen

Diagonale/Miriam Raneburger

Sarah Fattahi

Hände streichen über Gegenstände. Der Blick nach draußen auf Krähen auf Bäumen. Aus Papier geschnittene Vögel, die Arbeit einer Künstlerin an neuen Bildern. Und immer wieder setzen die Frauen an und sprechen über ihr Leben und das, was ihnen widerfahren ist. Wie nüchtern sie dies tun, mag überraschen und trifft einen doch viel mehr. So etwa, wenn eine Mutter vom Auffinden einer Wasserleiche erzählt: Der Tod ihres Sohnes war ein Mord. Die Hände des jungen Mannes hinter dem Rücken gefesselt, war er in einen Fluss geworfen worden.

In ihrer Geburtsstadt Damaskus hat Sara Fattahi 2015 ihren Film „Coma“ mit Familienmitgliedern im syrischen Krieg gedreht, im selben Jahr kam sie im Exil, in Wien an. Gestern Abend in Graz sagt sie: „Heute fühle ich mich als Österreicherin“. Den Großen Diagonale Preis Spielfilm empfindet sie als offizielle Bestätigung, als Filmemacherin in Österreich angekommen zu sein. Als Storyboard-Artist und Animatorin hat sie in Syrien für TV-Sender wie Al Jazeera Kids gearbeitet, war Art Director bei Soap Operas und machte sich 2010 als Filmemacherin und Produzentin selbstständig. „Chaos“ (siehe Titelbild dieser Story) hatte seine Weltpremiere am Filmfest Locarno. Dessen damaliger künstlerischer Leiter ist der neue Intendant der Berlinale.

Kein klassischer Spielfilm

„Chaos“ ist ein Film, auf den man sich einlassen muss, der mit einzelnen Bildern dem vorgetragenen Erlebten nachspürt. Es ist ein intimer Film, der gerade durch diese Nähe von Kamera und Erzählung universell verstanden werden kann. Die ProtagonistInnen bleiben bis zum Abspann namenlos. Der Großteil des Films spielt in privaten Räumen, in Wohnungen. Auch die Filmemacherin Sara Fattahi ist zu sehen. Draußen eilt eine blondierte Frau durch die Straßen Wiens, das Publikum ist ihr mit Abstand auf den Fersen. Gegen Ende wird ihr Schritt langsamer. Wir laufen auf einen Friedhof zu. Dass „Chaos“ in der Kategorie „Spielfilm“ auf der Diagonale gelaufen ist und nicht als Dokumentarfilm gewertet wird, verwundert doch sehr.

„Was meint man eigentlich damit, mit ‚Die ganze Gesellschaft beschreiben‘? Die Bewusstseinslage in einer Zeit, das heißt doch nicht, dass man die Sätze nachspricht, die die Gesellschaft spricht, sondern die muss sich anders zeigen. Und sie muss sich radikal anders zeigen. Denn sonst wird man nie wissen, was unsere Zeit war“, ist in der Mitte des Films aus dem Off zu hören. Die Sätze dürfen als Manifest der Filmemacherin verstanden werden. Denn „Chaos“ ist ein eigenwilliger Kunstfilm, der den Erwartungen, einen klassischen Spielfilm zu sehen, entgegenläuft. Wie Sara Fattahi ihren Charakteren ein umfassendes Spektrum an Gefühlswelt zugesteht, ja zuschreibt, macht die Erzählung hörenswert. Auch Rachegedanken bekommen ihren Raum und sie klingen dann auch noch poetisch: „In mir wartet eine blutrünstige Löwin“.

Im Moment wäre es ruhig in Damaskus, sagt Sara Fattahi. Die Menschen gehen ihren Leben nach, es gäbe ein Alltagsleben wie hier, in Österreich. „Es ist ein Stereotyp, dass alles zum Stillstand käme, wenn in einem Land Krieg ist. Aber dem ist nicht so. Da ist noch Leben.“

Bald im Kino

  • Untote, Palatschinken im Gesicht und die Adaption eines Jelinek-Romans zum Stummfilm: „Die Kinder der Toten“ startet am 5.4.
  • Nikolaus Geyrhalters „Bob-der-Baumeister für Erwachsene“, wie orf.at schreibt, ist die Doku „Erde“, in der weiße Männer mit großen Maschinen ganze Berge abtragen: „Erde“ kommt am 17. 5. ins Kino.
  • Nach der Österreichpremiere auf der Diagonale wird der genüssliche „Kavier“ von Elena Tikhonova ab 13. 6. regulär im Kino zu sehen sein.
  • Peter Brunners „To the Night“ startet am 14. 6.
  • Gregor Schmidingers Porträt von mehr als Teenage Angst „Nevrland“ ist ab 17.10.2019 wieder auf großer Leinwand zu sehen.

Die beste Dokumentation

Nathalie Borgers freut sich riesig, mit der goldenen Nuss den Preis für die beste Dokumentation bekommen zu haben. Die Regisseurin kam in Belgien zur Welt, seit Jahren zeichnet sie für sehr scharfe österreichische Dokumentarfilme verantwortlich. Ihr Porträt des großen Boulevard-Blatts „Kronen Zeitung – Tag für Tag ein Boulevardstück“ lief 2003 auf der Diagonale, die Erkundungen nach dem Erbe des verstorbenen FPÖ-Politikers und Kärntner Landeshauptmanns Jörg Haider in Kärnten in „Fang den Haider“ hatte 2015 auf der Diagonale Premiere. Ausgangspunkt für ihren neuen, sehr interessanten Dokumentarfilm war die Frage nach der letzten Würde: Was wird mit den Leichen gemacht, die vielfach Fischer an den Stränden griechischer Inseln auffinden? Wer informiert die Angehörigen? Und wie geht es Menschen, die geliebte Personen vermissen und um sie bangen?

Nathalie Borgers + Sarah Fattahi Diagonale Gewinnerinnen

Diagonale/Miriam Raneburger

Nathalie Borgers

Smartphones bergen die letzten Aufnahmen geliebter Menschen. Angehörige des Roten Kreuzes markieren auf Silhouetten auf vorgefertigten Formularen jene Stellen, wo die Menschen Tattoos trugen. Die Narbe vom Kaiserschnitt wird eingetragen, auch die Körpergrößen vermerkt. „The Remains - Nach der Odysee“ führt sein Publikum ganz nah an das traurige Schicksal einer kurdischen Familie aus Syrien: Auf der Flucht hat die Familie 13 Angehörige verloren, sie sind im Meer ertrunken. Der Film führt auch nach Lesbos, wo Freiwillige sich an der Suche nach Vermissten und um eine menschenwürdige Beisetzung ums Leben gekommener Geflüchteter bemühen.

„Es gibt zwei Sachen, die für mich sehr wichtig sind und mich berühren und zwar auf eine Art, die positiv ist und nicht nur traurig“, sagt Regisseurin Nathalie Borgers. „Ich finde es wirklich bemerkenswert, dass sich immer wieder Menschen dafür einsetzen, die Familien zu betreuen, die nach Vermissten suchen oder die nicht identifizierte Toten beerdigen und ihnen die letzte Ehre erweisen, obwohl sie diese Menschen nicht kennen. Diese Menschlichkeit geht über alles“.

Ja, ihr Film führe nah an den Schmerz, stimmt Nathalie Borgers zu. Aber auf der anderen Ebene könne man sich einer anderen Art von Verständnis nähern. „The Remains - Nach der Odysee“ trägt ein Verständnis für das, was die Überlebenden durchleben mussten. „Ohne uns schuldig zu fühlen. Wir sind einfach dabei, es ist auch schön, dabei sein zu können und das zu verstehen. Das ist auch ein Geschenk dieser Familie an uns, dass wir das sehen und miterleben können“, bringt Borgers ihren Dank den ProtagonistInnen gegenüber zum Ausdruck.

An ihre ProtagonistInnen denkt sie sehr oft, die Filmemacherin besuche sie ab und zu und begleite sie, wo sie könne. „Sie haben auch andere Probleme. Jobsuche, Wohnungssuche etc. Dabei kann ich ein bisschen hilfreich sein. Aber wir sind jetzt auch dabei, zu sehen, ob das Schiff geborgen werden kann. Das Rote Kreuz hilft“. 50000 Euro sind für die Filmemacherin viel Geld. „Für Menschen mit Geld oder Macht aber nicht“.

"The Remains" Filmstill

Thimfilm Navigator Film

„The Remains - Nach der Odyssee“

Nicht jeder Hype ist ein Hit

Nach vier Tagen und fünf Abenden im Kino tränen manche BesucherInnenaugen. Im Goodie-Bag der Diagonale war vorsorglich künstliche Tränenflüssigkeit enthalten. Und so wünscht man sich doch noch einen Tag extra. Denn all die Kurzfilme - ob aus dem innovativen, dem Doku- oder Spielfilmprogramm - bekommt man im Kino nicht mehr zu sehen. „Durch die Nacht mit“ von Tim Oppermann zum Beispiel.

Als verstörend bis ermüdend erwies sich der eine und andere im Vorfeld des Festivals sehr gehypte Film. Peter Brunners „To the Night“ ist anstrengend, „Nevrland“ trägt gar dick auf, wenn sich Schlachthausszenen, Pornobilder und Angstzustände zu harten Beats zunehmend ineinander schieben. Und der Wunsch des Regisseurs, dass mehr Geschichten „post-gay“ erzählt werden, also sexuelle Vorlieben nicht problematisiert dargestellt werden, wird nicht eingelöst. Simon Frühwirth wird für seine Darstellung des 17jährigen Jakob als bester Schauspieler der diesjährigen Diagonale ausgezeichnet. Der Preis für den besten Auftritt einer Schauspielerin geht an Joy Alphonsus für ihre Verkörperung von „Joy“, dem erschütternden Drama von Sudabeh Mortezai.

Simon Frühwirth

Diagonale/Miriam Raneburger

Simon Frühwirth

Bei allem Respekt für künstlerisches Schaffen, drängt sich doch die Tatsache auf, dass auch das heimische Filmschaffen mit Netflix und Amazon Prime konkurriert. Vom Kinderkino über die Schulvorstellungen, von den Publikumsgesprächen in den „Club Diagonale“ abends: Die Diagonale bietet alles auf, um uns das heimische Filmschaffen zu zeigen. Das Programm ist derart dicht, dass ich wieder nicht „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“ binge-watchen konnte.

In ihrer Programmgestaltung sind die Intendanten auf das jeweilige Produktionsjahr angewiesen, allzu viel Spielraum bleibt da nicht. Im vierten Jahr der Intendanz von Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber wünscht man sich nur eines zusätzlich: Wieder einen internationalen Gast mit Publikumsgespräch, Masterclass und Screenings. Nicht als anlassgegebenen Aufputz, sondern als Erweiterung der Perspektiven.

Sehr schön sind die Schwerpunktsetzungen von „In Referenz“. Gut möglich, dass so der 1966 im Rahmen eines Studienprogramms gedrehte Schwarzweißfilm „Romy - Porträt eines Gesichts“ zu einem der großen, persönlichen Highlights des diesjährigen Festivals wird. Welch perfekter Film für einen Vormittag am Wochenende!

„Alltag, den muss man ja auch leben können“, sagt darin die 27jährige Romy Schneider im Skiurlaub, im Hause des Prinzen Liechtenstein. Dem „Star System“ wolle sie nicht genügen, sie sehne sich nach kleinen, unabhängigen Filmproduktionen und nach dem Theater, nach einem modernen Stück - um nicht sofort gemessen werden zu können an VorgängerInnen.

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