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Albrecht Selge erzählt in „Fliegen“ über ein Leben im Zug

Im Zug wohnen, weil man sich keine Wohnung mehr leisten kann, ist an sich schon ein spannender Gedanke. Der deutsche Autor Albrecht Selge holt aus seiner Protagonistin aber noch viel mehr heraus.

Von Simon Welebil

Albrecht Selges Protagonistin, die ohne Namen bleibt, fährt Bahn, oder besser, sie lebt in der Bahn, und das 365 Tage im Jahr. Vor zwei Jahren ist die Frau, von ihrem Vermieter aus der Wohnung gedrängt worden. Mit ihrer mickrigen Rente hat sie eine in ihren Augen recht pragmatische Entscheidung getroffen. Die Bahncard 100, mit der sie rund um die Uhr alle Züge der Deutschen Bahn nutzen kann und auch deren Lounges, kostet 388 Euro im Monat (aktuell übrigens 406 Euro), eine neue Wohnung weit mehr.

Buchcover "Fliegen" von Albrecht Selge

rowohlt

„Fliegen“ von Albrecht Selge ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Solch ein Leben im Zug ist ein interessanter Gedanke, der nicht nur in der Theorie existiert. Eine kurze Online-Recherche bringt einige Reportagen über sogenannte Zugnomad*innen zum Vorschein, die Albrecht Selge mit Sicherheit zu seiner Geschichte inspiriert haben.

Wie organisiert man ein Leben im Zug?

Selges Zugnomadin in „Fliegen“ ist schon das zweite Jahr auf Schiene. All ihre Besitztümer hat sie bei sich, ein bisschen Wechselkleidung, Waschsachen, ein paar Fotos, Dokumente und ihr einziges Buch, ein Gedichtband. Dazu eine große Tasche für Pfandflaschen, mit denen sie ihre täglichen Bedürfnisse finanziert. Wenn sie Glück hat, hat ein Zug Verspätung und sie bekommt Gutscheine von der Deutschen Bahn, die sie für Bordmenüs oder Kuchen einlösen kann.

Es hat nicht lange gedauert, bis sich für die Frau ein Alltag etabliert hat. Sie bewegt sich entlang einer Wochenroute, an der sie strikt festhält, und die ihr möglichst viel Abwechslung bietet: Züge vom ICE bis zum Regio, Berge, Täler, flaches Land, Meer, eine Route mit Puffer und Alternativen. Durch diese Routinen macht sie aber auch Bekanntschaften.

Albrecht Selge hat sich viel Gedanken darüber gemacht, wie man ein Leben im Zug organisiert - von den besten Sitzplätzen über Wasch- und Versorgungsmöglichkeiten und wie man Gefahren möglichst vermeidet. Nach und nach erfährt man außerdem, wie die Protagonistin in ihre Situation gekommen ist.

Die Zugnomadin als ideale Projektionsfläche

Es passiert nicht viel im Roman, wie auch bei einer alltäglichen Zugfahrt nicht viel passiert: Aus dem Fenster schauen, Mitreisende beobachten. Zeitung lesen und Gedanken nachhängen. Mit diesen unspektakulären Tätigkeiten öffnet Selge aber eine breite Palette von Themen: Altersarmut und Obdachlosigkeit in einem der reichsten Länder der Welt stehen dabei ganz oben.

Seine Protagonistin wird dabei zur idealen Projektionsfläche. Sie illustriert etwa perfekt, dass weibliche Wohnungslosigkeit oft unsichtbar für die Gesellschaft ist und auch die strukturellen Gründe dahinter werden durch biografische Details der Protagonistin greifbar. Auch die Verrohung der Gesellschaft und die Entsolidarisierung nehmen im Roman viel Platz ein.

„Blickte viel aus dem Fenster. Ist doch, wenn nicht der, dann ein Sinn des Zugfahrens. Nur manchmal beim Hinausblicken der flüchtige Eindruck, die Welt ist längst zu Ende.“

Jeder Blick aus dem Fenster öffnet eine neue Gedankenwelt: „Die ersten Störche dieses Jahr schon Ende Januar. Vielleicht Anfang Februar, naja. Als wär die Welt aus den Fugen geraten.“ Die Welt ist auch aus den Fugen geraten, zumindest bekommt die Protagonistin das durch jede Menge Zeitungsberichte bestätigt. Sie liest im Zug von Polizeigewalt, von Flüchtlingsschicksalen und Klimakrise.

Außerhalb des Zuges passiert vieles zum Fürchten. So kann man fast verstehen, dass Selges Protagonistin nicht mehr aus dem Zug heraus will. Hier, innerhalb der Metallröhren ist sie in ihrer Welt. „Vor dem Umsteigen jedes Mal bisschen Bammel, immer noch. Den sicheren schwankenden Boden verlassen, den gefährlichen festen Grund betreten.“

Trotz fehlender Handlung wird Albrecht Selges „Fliegen“ nie langweilig. Eher geht man in Selges recht poetischer Sprache und der damit geschaffenen Bilder verloren, bis er einen dann plötzlich wieder herausreißt.

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