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Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Brexit ist so wie Bovril

Was hat der Brexit mit konzentrierter Kraftbrühe gemein? Und warum kann man den Mond nicht lutschen? Fragen, die Britanniens nationales Schicksal bestimmen.

Von Robert Rotifer

Heute im Supermarkt, die ältere Dame fragt den jungen Shop Assistant. „Wüssten sie vielleicht, wo man hier Bovril findet?“
„Bovril?“, fragt er, „Bovril? I’m afraid I’m not familiar with Bovril Könnten, sie mir sagen, was das äh...“
Sie: „Also, Bovril ist...“
Ich: „Das sollte hier drüben sein.“
Wieder ich, auf ein Glas Bovril deutend: „Da, bittesehr.“
Sie: „Bovril!“
Er: „Ahh!“

Glas Bovril

Robert Rotifer

Gäbe es irgendeine Gerechtigkeit, sie hätten dem Immigranten hier und jetzt ehrenhalber sein Citizenship umgehängt. Nein, auch ich kann euch nicht wirklich erklären, wozu Bovril gut ist, niemand will allzu genau wissen, was drin ist (ein Exktrakt gekochter Rindsknochen, man kann auch konzentrierte Kraftbrühe dazu sagen, es schmeckt aber nicht ganz so) und wozu man es 65 Jahre nach der Abschaffung von Essensmarken noch braucht, aber ich lebe lang genug in diesem Land um zu wissen, wo es steht. Und das umschreibt irgendwie auch ziemlich gut meine Beziehung zum.. dreimal raten... Brexit.

Vielleicht ist es ja irgendwem aufgefallen, aber ich habe mich eine Woche lang da rausgehalten seit dem Schmexit Day, als der Brexit nicht passierte. Es sieht so aus, als hätte ich mir eine ganz gute Woche zum Pausemachen ausgesucht, denn wahnsinnig viel ist seither nicht passiert. Und das ist genau das Problem, denn das bedeutet, mehr als die Hälfte des Aufschubs, den Großbritannien sich bei der EU ausgehandelt hat, ist bereits verstrichen.

Rekapitulieren wir kurz:
Im Unterhaus kam man zwar einer Lösung nicht näher, hat aber immerhin ein Gesetz beschlossen, wonach die Regierung im Fall eines drohenden „No Deal“ bei der EU um eine weitere Verlängerung ansuchen muss. Das Gesetz muss allerdings noch das House of Lords passieren, bevor es gilt, und auch das hindert keinen der 27 EU-Staaten daran, sein Veto gegen so eine Verlängerung einzulegen und Großbritannien über die Klippen zu schubsen. Das nennt man „Taking back control“!

Schlaumeier wie ich meinten immer, Mays Fehler sei gewesen, nicht über die Grenzen ihrer Fraktion hinweg zu verhandeln

Die andere große News der Woche war, dass Theresa May, nachdem sie mit ihrem eigenen Kabinett auf keinen grünen Zweig kommt und die nordirische DUP erklärt hat, sie werde auch in 1000 Jahren nicht für ihren Deal stimmen, nun doch mit Jeremy Corbyn verhandelt. In anderen Worten: Labours-Schatten-Brexit-Minister Keir Starmer und die Schattenwirtschaftsministerin Rebecca Long-Bailey sprechen mit Mays Vize David Lidington.

Wir erinnern uns, Schlaumeier wie ich meinten immer, Mays Fehler sei gewesen, nicht über die Grenzen ihrer Fraktion hinweg zu verhandeln, aber jetzt, wo ihr nichts anderes erspart bleibt, wird klar: Sie kennt ihre Partei und wusste wohl, was passieren würde, wenn die Premierministerin der vermeintlich reifsten Demokratie der Welt es wagt, über ein Thema existenzieller Wichtigkeit mit dem Oppositionsführer zu reden. Ihre eigene Partei steht prompt vor der Spaltung bzw. völlig Kopf bzw. fordert den ihrigen.

„Uns Tory-Abgeordneten flattern jetzt die Emails herein“, sagte der Brexit-Headbanger Mark Francois am Freitag, „Sie fragen: Warum verkehren wir jetzt mit einem Marxisten? Zwei Jahre lang haben wir dem Volk dieses Landes erklärt, Jeremy Corbyn sei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit und die Wirtschaft. Und jetzt setzt die Premierministerin sich offen hin und spricht mit ihm über unser nationales Schicksal.“

Der hohe Preis für Brüche demokratischer Umgangsformen wird immer erst im Notfall klar.

Er hat natürlich recht: Man kann Jeremy Corbyn nicht erst dämonisieren (die Bezeichnung als „eine der größten Gefahren für die nationale Sicherheit“ geht immerhin auf den dafür zuständigen Innenminister Sajid Javid zurück) und dann mit dem Dämon persönlich konstruktiv zusammensitzen. Der hohe Preis für solche Brüche der demokratischen Umgangsformen wird eben immer erst im Notfall klar.

Genauso wie es Theresa May vor zwei Jahren recht und billig erschienen sein mag, dem Land den größten aller Lollipops, wie man hier so schön sagt, „the moon on a stick“ zu versprechen. Viel schwieriger ist es allerdings, die von realitätsfernen Brexit-Fantasmen und nationalistischem Brusttrommeln infantilisierte, britische Öffentlichkeit jetzt wieder auf den Boden der Realität zurück zu holen. So provoziert man einen Trotzanfall.

Insofern hat Labour natürlich auch einen ziemlich guten Grund, sich um eine mögliche Einigung mit May herumzudrücken. Denn selbst wenn es Labour gelänge, die mit Mays Deal verbundene politische Absichtserklärung über die künftigen Beziehungen zur EU so zu modifizieren, dass sie den eigenen Zielen wie Beibehaltung EU-konformer Arbeitsrechte, Umweltnormen und dem Verbleib in einer Zollunion entsprechen, müsste die Premierministerin nach dessen Bestätigung durch das Parlament gemäß ihrem Versprechen an die eigene Partei das Feld räumen bzw. aller Wahrscheinlichkeit einem irren Brextremisten wie Boris Johnson überlassen, der verantwortungslos genug ist, die eigene Basis weiter mit Fantasien aus dem reichen Schatz an Brexit-Mythen bei Laune zu halten. Soweit zu Gefahren für die nationale Sicherheit.

Nicht zuletzt deshalb bestehen viele in der Labour Party wie etwa Schattenaußenministerin Emily Thornberry darauf, dass selbst ein solcher Deal nur in Verbindung mit der Verpflichtung zu einem bestätigenden Referendum zustande kommen kann.

Dies wiederum würde eine lange Verzögerung des EU-Austritts bedeuten, um welche anzusuchen Theresa May gar nicht bereit erscheint, zumal Großbritannien dann zwingend an den EU-Wahlen im Mai teilnehmen müsste. Und diese Aussicht beschreibt so gut wie jede_r Tory-Politiker_in, die/der dieser Tage vor eine Kamera tritt, als „absurd“, „unakzeptabel“ oder gleich als „Betrug an den Wähler_innen“. Wie es diesen Leuten gelingt, auch in Bezug auf ein zweites Referendum das Recht auf Stimmabgabe als undemokratische Zumutung darzustellen, gemahnt ein Festland-geschultes Gemüt wie meines bedenklich frappant an die Logik des Faschismus.

Dahinter stecken allerdings weniger große Führer-Ambitionen als die ganz banale Angst vor dem Verlieren: Sowohl jenes Referendums als auch jener potenziellen EU-Wahlen, die schließlich im Gegensatz zu Unterhauswahlen nach Proportionalwahlrecht stattfinden. Rechtspopulistische Kräfte wie Nigel Farages „neue“ Brexit-Partei oder UKIP könnten die Tories in diesem Fall pulverisiert, Labour wiederum wäre auch von den pro-europäischen Greens und „Change UK – The Independent Group“, den europhilen abtrünnigen Zentrist_innen bedroht.

„Wie sie Ihr Geld vor Corbyn schützen“

Es ist daher ziemlich klar, warum May so sehr am Datum des 30. Juni hängt, also des letzten Tages, bevor das neugewählte Europa-Parlament zum ersten Mal sitzt, wo dann endgültig entweder britische Abgeordnete gewählt sein oder Großbritannien wirklich draußen sein muss. Denn was sich bis dahin im Gegensatz zu einem zweiten Referendum sehr wohl ausginge, wären Neuwahlen nach dem für die alten Großparteien wesentlich angenehmeren First past the post-System. In diesem Rennen läge nach den jüngsten Umfragen allerdings derzeit gerade wieder Labour vorne.

Überschrift in der Mail on Sunday: How to protect your cash from Corbyn

Mail on Sunday

Aus der heutigen Mail on Sunday

Nur so ist zu erklären, dass das Tory-freundliche Übergewicht der britischen Presse in den heutigen Sonntagsausgaben, also am Anfang jener Woche, in der Großbritannien in den nationalen Notstand eines No Deal-Szenarios zu schlittern droht, stattdessen lieber Angst vor Corbyn macht.

Wenn etwa The Times titelt: „Labour’s Hate Files Expose Anti-Semite Army.“
Bei aller Anerkennung eines Antisemitismusproblems in Teilen der Labour Party: Dabei von einer „antisemitischen Armee“ zu sprechen, überspannt den Bogen der Realität derart offensichtlich, dass es den Antisemitismusvorwurf per se gefährlich entwertet. Er wird zum Teil des tagespolitischen Hintergrundrauschens gegenseitiger Anwürfe.

Die Mail on Sunday wiederum brachte heute eine 8-seitige Service-Beilage mit dem Titel: „How to protect your cash from Corbyn.“ Gleichzeitig sitzt die konservative Andrea Leadsom, Leader of the House im Parlament, heute in einer BBC-Talkshow und erklärt wieder einmal, „No Deal“ wäre wohl gar nicht so schlimm, wie die Leute sich das vorstellen.

Man könnte es den EU27, insbesondere den am Lautesten skeptischen Ländern Frankreich, Spanien und Belgien nicht wirklich verdenken, wenn sie überlegen, es lieber drauf ankommen, als sich weiter für dieses irre Spiel missbrauchen zu lassen.

Oh je, wenn das jetzt hier wer liest, bin ich meine Bovril-Ehrenbürgerschaft gleich wieder los.

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