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Schritte auf einer Treppe

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Warum Gehen die schönste Art der Fortbewegung ist

Früher gab es Schrittzähler. Schöne, runde Geräte, die wie Armbanduhren aussahen. Man hängte sie an den Gürtel und bei jedem Schritt machten sie ein Geräusch. Dieses Geräusch erinnerte uns daran, dass wir gehen. Ich gehe, also bin ich, dachte man sich. Jetzt sind die Schrittzähler verschwunden. Die Smartphones haben ihre Funktion übernommen.

Von Todor Ovtcharov

Auch die Smartphones zählen unsere Schritte, machen es aber lautlos und hinterhältig. Das Smartphone ist ein böses Tier! Es weiß alles über uns und macht alles besser als wir, und ich frage mich, wann es anfangen wird, das der ganzen Welt mitzuteilen. Es weiß, welche meine Lieblingsfußballmannschaft ist, was für Bücher ich lese, was für Augentropfen ich brauche und wie viel Ketchup ich zur Wurst esse. Nicht, dass das die Welt interessieren würde, aber man weiß nie. Da ich mich für die Welt interessiere, könnte die Welt auch irgendwann anfangen, sich für mich zu interessieren und bei meinem Smartphone nachfragen.

Mein Interesse an der Welt ist verbunden mit der Zeit, die ich zu Fuß gehe. Und ich gehe viel zu Fuß. Ich mache täglich durchschnittlich 11.300 Schritte. Seitdem ich in Wien lebe, bin ich 21.324 Kilometer zu Fuß gegangen. Das ist der halbe Weltumfang am Äquator. Ich gehe aber nicht den Äquator entlang, sondern die Straßen von Wien. Ich gehe und beobachte. Bei mir ums Eck gehe ich an einem Gebäude vorbei, über dessen Eingang ein Atlas die Welt auf seinen Schulter trägt. Hinter ihm gibt es ein Fenster mit blauen Vorhängen, die immer geschlossen sind. Wer wohnt wohl dahinter? Die blaue Fee? Ein bisschen weiter ist das Altersheim. Dort wohnen die glücklichsten Menschen der Welt. Und wie können sie traurig sein, wenn sie wissen, dass das Leben bald vorbei ist? Dort werden viel wildere Partys als in den Wiener Clubs gefeiert.

Ich gehe auch gerne an U-Bahn-Stationen vorbei. Die Menschen eilen über die Rolltreppen, um ein paar Minuten zu sparen. Was sie wohl mit ihrer ersparten Zeit machen? Sie konservieren sie und bringen sie in den Keller. Ich mag es auch, an Baustellen vorbeizugehen. Eines Mittags saßen alle Bauarbeiter da und tranken Bier. Alle außer einem. Ein Mann Mitte 40 mit Dreck unter seinen Fingernägel. Er sprach in sein Handy. Er versuchte, seinem Kind bei den Mathehausaufgaben zu helfen. Jedes Mal, wenn das Kind eine Aufgabe gelöst hatte, lächelte er. Das würde man nie sehen, wenn man an der Baustelle mit dem Zug, mit dem Auto oder mit einem Elektroroller vorbeisausen würde.

Aber mein Smartphone weiß nichts davon. Das einzige, was es mir sagen kann, ist, dass ich täglich 10.000 Schritte machen muss.

Factbox: Gehen

In Österreich gehen die Menschen im Schnitt 300 bis 700 Meter täglich. Die Wege, die ausschließlich zu Fuß gegangen werden, um von A nach B zu kommen, werden seit Jahrzehnten immer kürzer. Nur noch zwei Prozent der Personenkilometer werden in Österreich zu Fuß zurückgelegt. Das zeigt der sogenannte Modal Split, mit dem die zurückgelegten Wege, nach Verkehrsmittel aufgeschlüsselt, statistisch erfasst werden.

Autos, Öffis, Fahrräder, Skater und Hoverboards drängen die Fußgänger*innen an den Rand. Jetzt sagen die E-Roller den letzten Gehstrecken auf dem Weg von A nach B den Kampf an. Mit dem hohen Motorisierungsgrad der Gesellschaft wurde das Gehen in der Verkehrs- und Stadtplanung lange ignoriert. Nicht nur in Österreich, sondern weltweit wollte man die Fußgänger*innen am liebsten aus dem Weg schaffen - z.B. mit Hilfe von Über- und Unterführungen.

Seit 2015 will die österreichische Regierung mit dem „Masterplan Gehen“ den Fußverkehr wieder attraktiv machen. Keine andere Verkehrsform - auch das Radfahren - ist so umweltfreundlich und gleichzeitig gesund. Österreichweit gibt es starke Unterschiede im Fußverkehr. Die meisten Fußgänger*innen sind in Wien unterwegs. In St. Pölten sind es nur 16 Prozent. Gehen ist vor allem bei denen beliebt, die oft keine Alternative haben. Kinder und Senior*innen gehen mehr als alle anderen. Frauen gehen mehr als Männer.

So gesund und umweltfreundlich das Gehen auch ist, stellen die Fußgänger*innen die Verkehrsplanung vor große Herausforderungen: Sie sind die langsamsten und schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen. Deshalb braucht es nicht nur Bewusstseinsbildung, um das Gehen attraktiver zu machen, sondern vor allem mehr Platz, Barrierefreiheit, ausgewiesene Gehstrecken und Sicherheit. Zuletzt hat die Diskussion um die Abbiegeassistenten gezeigt, wie schwierig es ist, echte Veränderungen in einem Verkehrssystem zu bewirken, in dem die Urform der Mobilität den untersten Rang einnimmt.

FM4 Auf Laut: Wohin gehst du noch?

Wohin gehst du selbst zu Fuß? Fühlst du dich wohl am Gehsteig? Welche Rolle hat das Zu-Fuß-Gehen in der Stadt heute?

In FM4 Auf Laut diskutiert Rainer Springenschmid mit Anrufer*innen und Expert*innen über die Urform der Mobilität.

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