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Kind mit Lutscher im Mund

Crossing Europe

Große und kleine „Systemsprenger“ beim Crossing Europe Festival

Es ist das Festival, auf dem du Europa ganz bequem im Kinosessel bereist: Das Crossing Europe in Linz zeigt von 25. bis 30. April junges Autor*innenkino - mit systemsprengenden Kindern, realen Machthabern und animierten Hunden im Weltall.

Von Maria Motter

Sie tobt. Sie schreit. Und sie packt ein Spielzeugauto und schleudert es direkt Richtung Erzieher, der schnell die Tür zum Hof schließt. „Keine Sorge, das ist Sicherheitsglas“, will der Erzieher beruhigen. Doch ein Riss geht durch das Glas. Die neunjährige, niedlich aussehende Benni ist ein „Systemsprenger“ und im gleichnamigen, fulminanten Spielfilm der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt kommen Benni und mit ihr die Zuschauer*innen kaum zur Ruhe. „Systemsprenger“ ist einer der fünf (!) Eröffnungsfilme des Crossing Europe Filmfestivals in Linz.

Und allein dieser Film ist eine Anreise wert. Kaum ein Actionfilm dieser Tage kann mit der Dynamik von „Systemsprenger“ mithalten. Die Geschichte über ein Mädchen, das einfach nur nachhause zu ihrer Mutter will, ist herzergreifend und konsequent erzählt und die elfjährige Hauptdarstellerin Helena Zengel würde alle an die Wand spielen, könnte nicht auch das Erwachsenen-Ensemble mit ihr mithalten. Dieses Mädchen kann so schauen, den Mund verziehen und schlicht spielen, dass es keine alles erklärenden Dialoge mehr braucht.

Ein Mädchen steht auf einem Feld

kineo Film/Weydemann Bros.

„Systemsprenger“

Mit Benni macht man eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch. Man verbündet sich mit ihr, man ist verwirrt und vor den Kopf gestoßen, man hadert und bangt und weiß nur ziemlich schnell, dass es keine Lösung sein kann, ein mehr als verhaltensauffälliges Kind, das aus jedem Heim fliegt, nach Afrika auf Austausch zu schicken. Die Grenzen einer Gesellschaft führt „Systemsprenger“ jedoch nicht vor, der Film erzählt von der universellen großen Sehnsucht nach Geborgenheit.

Auf der Berlinale überzeugte dieses Drama die Schauspielerin Sandra Hüller (die selbst zuletzt in „Toni Erdmann“ brillierte) so sehr, dass sie vor der „Benni“-Darstellerin Helena Zengel auf die Knie ging. „Systemsprenger“ erhielt 2019 den Silbernen Bären bzw. Alfred-Bauer-Preis. Alle, alle sollten diesen Film sehen! Und es ist bezeichnend für das Crossing Europe Filmfestival, dass dieser Film jetzt Monate vor dem regulären Kinostart in Österreich in Linz zu sehen sein wird. Denn hier läuft, was aufwühlt, begeistert, fasziniert und so gut gemacht ist, dass es auch auf internationalen Filmfestivals auf anderen Kontinenten Beachtung findet.

Das Crossing Europe Filmfestival und dessen Intendantin Christine Dollhofer präsentiert von 25. bis 30. April bereits zum 16. Mal junges europäisches Filmschaffen. Am Crossing Europe schaut man buchstäblich ins Europa der Gegenwart: Wieder wird es eine cineastische Reise, die mit privaten Geschichten von großen politischen Zuständen berichtet.

Im Wettbewerb des „Crossing Europe“ laufen die Debüt- und Zweitfilme junger RegisseurInnen. Dann gibt es herausragende Spielfilme in der Programmreihe „European Fiction“ und Dokumentarfilme. Neu ist eine eigene Jugendprogrammreihe namens „Yaaas!“. „Arbeitswelten“ und der Architektur sind eigene Programme gewidmet. Und auch das junge heimische Filmschaffen wird präsentiert. Die Nachtsicht erobert sich das Publikum für Genrefilme, vom Horror zum Fantastischen. Das komplette Programm findest du hier.

Von der Synopsis manches Filmes lassen wir uns nicht abschrecken. „Frauenmorde machen 37,6 Prozent der in Italien begangenen Morde aus - das heißt, dass jede Woche drei Frauen getötet werden, in 72 Prozent der Fälle von einem Angehörigen, Ehemann oder Ex-Partner“, liest man etwa zur Dokumentation „I had a dream“ von Claudia Tosi. Am Crossing Europe wird Zeitgeschichte vermittelt.

So dokumentiert Eszter Hajdu mit „Hungary 2018“ den aggressiven Wahlkampf und zeigt die Vorgehensweise der nationalkonservativen, rechtspopulistischen Partei Fidesz. Der große Dokumentarfilmer Vitaly Mansky, der schon in Linz zu Gast war, bringt seinen neuen Film „Putin’s Witnesses“ mit: Hier begegnen sich die Machtjahre Jelzins und Putins in Archivaufnahmen und Home Videos.

Protestierende Menschen in Moskau

Vitali Manski

„Putin’s Witnesses“

Vitali Mansky war Leiter der Dokufilm-Abteilung des russischen Staatsfernsehens. Heute ist er Filmaktivist und lebt in Riga. Für „Still Recording“ wiederum haben zwei Filmemacher 450 Stunden Videomaterial gesichtet: Zwischen 2011 und 2015 dokumentierten Kameraleute den syrischen Bürgerkrieg.

Nächtliche Kino-Trips ins Ungewisse

Auch in die Programmreihe „Nachtsicht“, bei der man sich Genrefilme bis weit nach Mitternacht in den Kinos gönnen kann, dringen reale Horrorszenarien ein. „Sons of Denmark“ von Ulaa Salim entwirft ein dystopisches Szenario, das nach einem fiktiven Bombenanschlag in Dänemark im Jahr 2025 spielt.

Die Nightline im OK Deck mit u.a. dem genialen Videoremixer Kurt Razelli, Catnap, Ankathi Koi und Ebow holt uns verlässlich wieder ins Hier und Jetzt.

Andere Ängste bedient „The Hole in the Ground“ von Lee Cronin: Hier zieht es eine junge Frau mit dem Söhnchen aufs Land, doch statt der Idylle blickt man bald auf einen Psychothriller. Es empfiehlt sich der Besuch zu zweit: Einer kann dann wegschauen, wenn die Angst überhandnimmt.

Die Antwort auf „Isle of Dogs“ und weitere Highlights

Hip Hop ist die treibende Kraft in „A Northern Soul“ von Sean McAllister: Ein Lagerarbeiter hat einen „Beats Bus“ organisiert, mit dem er Kindergärten und Preschools besucht.

Junge Frau und junger Mann sitzen auf einem Sofa unter einer Decke im Wohnzimmer, die Mutter kniet plaudernd daneben, Im Nebenzimmer ist eine andere junge Frau.

Protagonist Pictures

„The Souvenir“

Tilda Swinton und ihre Tochter Honor Swinton Byrne spielen in „The Souvenir“ zusammen. Die britische Regisseurin hatte für den Film kein Drehbuch, nur ihre Erinnerungen an die 80er Jahre und eine Kurzgeschichte. In „The Souvenir“ verliebt sich eine junge Filmstudentin aus der Upper Class in einen Schnösel. Die Regisseurin und Tilda Swinton kennen einander übrigens schon seit sie zehn sind.

Einen Tag im Leben von sechs Millenials in Neukölln in Berlin verbringt man in Simona Kostovas Debütfilm „Dreissig“, der bei den Filmfestspielen Rotterdam Premiere hatte.

Sechs junge Erwachsene abends beim Ausgehen, sie stehen vor einer Hauswand

Stray Dogs

„Dreissig“

Mehr als angetan waren KritikerInnen in Cannes von „One Day“: Der FIPIRESCI-Preis ging an das Frauenporträt von Regisseurin Zsofia Szilagyi, das auch am Crossing Europe laufen wird.

Unter all den neuen Filmen sticht ein Werk besonders hervor: Der slowakische Filmemacher Aurel Klimt schießt in seinem Animationsfilm „Laika“ ein ganzes Rudel an Husky-Terrier-Mischlingen ins All. Anders als der historische erste Hund auf Raumfahrtmission ergeht es den tierischen Abenteurern auf dem fernen Planeten gut - bis der Mensch dort auch ankommt. „Laika“ ist als „beißend ironische Sci-Fi-Parabel“ und als „kommunistisches Gegenstück zu Wes Andersons ‚Isle of Dogs‘“ angekündigt. Wow, Pardon, wuff!

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