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Sibylle Berg schildert in „GRM: Brainfuck“ ein Endzeitszenario

Schwindende Sozialleistungen, Arbeitslosigkeit wohin das Auge reicht, ein drohendes Überwachungssystem und eine Stadt, in der es ständig regnet: Sibylle Bergs neuester Roman „GRM Brainfuck“ beschreibt ein Endzeitszenario, das aktueller nicht sein könnte.

Von Michaela Pichler

Die englische Stadt Rochdale lockt nicht gerade mit lebensfrohem Ambiente. Zumindest, wenn es nach der post-industriellen Szenerie in Sibylle Bergs neuem Roman „GRM: Brainfuck“ geht. Im Willkommen-Österreich-Interview vom 9. April erklärt die Autorin: „Ich wollte für mich rausfinden, was es mit dieser ganzen Digitalisierung auf sich hat, vor der alle Angst haben. Die Algorithmen und die Roboter kommen. Was hat es mit diesem Überwachungsstaat, vor dem sich alle fürchten, auf sich? Was mit dem Neoliberalismus, was wollen die Faschos eigentlich? Ich bin dazu nach England gefahren, nicht weil das Wetter dort so schön ist, sondern weil England im neoliberalen Experiment am weitesten fortgeschritten ist.

Sibylle Berg

ORF/Hans Leitner

Mitten in dieser „Brave New World 2.0“ begleitet man die vier Jugendlichen Don, Karen, Peter und Hannah. Einsamkeit und verlassen Werden schweißt die „Notgruppierung seltsamer Kinder“ zusammen.

„Don interessierte nicht, wer weg war. In ihrer Welt verschwand immer jemand. Meist handelt es sich um Erziehungsberechtigte, die ins Gefängnis, in die Psychiatrie oder auf den Friedhof gerieten. Man redete hier nicht über seine familiäre Situation. Das war langweilig, denn es war in Abwandlung immer dieselbe Geschichte: Erwachsene, die am Leben gescheitert waren.“

Buchcover "GRM" von Sibylle Berg

Kiepenheuer & Witsch Verlag

Der Roman „GRM: Brainfuck“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Im Wiener Wuk findet am Montag, den 15.4.2019 eine Lesung von Sibylle Berg statt. Die Autorin tritt gemeinsam mit dem erst 14 Jahre alten Grime-Artist T.Roadz auf.

Grime als Rettungsanker?

Zwischen trostloser Zukunftsdepression und „No Future“-Atmosphäre flüchten die Jugendlichen ins Netz. Das Internet als abrufbarer Zufluchtsort, das Smartphone als lebensnotwendiges „Endgerät“, wie Sibylle Berg formuliert. Die Endgeräte sind für Don, Karen, Hannah und Peter auch das Tor zu Grime.

„Grime lief im Viertel den ganzen Tag. Als Musik zum Lebensgefühl. Wobei Kinder nicht von einem Lebensgefühl reden würden – es war ihr Leben. Wenn man erwachsen war, betäubte man aufkommende Gefühle mit Drogen, wenn man jung war, hörte man Musik. Und betäubte sich im Anschluss mit Drogen.“

Grime ist schneller, kritischer Rap und für die Protagonistinnen und Protagonisten im Roman Ventil. Endgerät und Grime helfen beim Betäuben der harten Realität aber nur zum Teil. Das zwischenmenschlich Böse lauert im Roman nämlich auf jeder einzelnen Seite.

„Von einigen Psychopathen abgesehen verfügt jeder über eine innere Klippe. Unten in einer dunklen Höhle liegt das, was der Mensch unter dem Begriff „böse“ gelernt und gespeichert hat. Ein kleiner Schritt, komm schon, sagte das Böse da unten im Schwarzen, lass dich fallen, es wird alles leichter dann.“

Auch Karens kurzfristiger Boyfriend Patuk stürzt über diese moralische Klippe: Nachdem er ihr Vertrauen gewonnen hat und die erste Liebe perfekt inszeniert, setzt er Karen unter Drogen. Betäubt und bewusstlos wird sie von da an von fremden Männern vergewaltigt, denen Patuk „etwas schuldig“ ist. Nach monatelanger Misshandlung gelingt Karen die Flucht.

Prädikat: Ziemlich harter Tobak

Wie tief sitzt diese Höhle des Bösen in uns? Wie wenige Schritte trennen uns von dem Moment, jegliches ethisches Denken und jegliche Moral über Bord zu werfen? In „GRM: Brainfuck“ sind die Schritte sehr sehr klein. Sibylle Berg nimmt sich beim Schildern des abgrundtief Bösem jeglicher Menschlichkeit wie gewohnt kein Blatt vor dem Mund. Mit ihrem neuesten Werk „GRM Brainfuck“ gelingt der Autorin ein schonungsloser Abriss derzeitiger Zustände - in all ihren Untiefen. Eine Kunst, die Sibylle Berg auch in ihrem 14. Roman gekonnt einsetzt.

Kleiner Tipp aus der Redaktion: Bei all der geschilderten sozialen Kälte und den detaillierten Darstellungen von Missbrauch und Gewalt sollte man sich besser warm anziehen. Außerdem hilft der Konsum von Katzenvideos am eigenen Endgerät gegen mögliche Downs nach dem Lesen.

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