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Schuld, Sühne, Schwarzwald: „Mein Bruder mein Herz“

Jochen Veit und sein naturalistisch-existenzieller Debütroman.

Von Lisa Schneider

„Hach, das ist er also, der Schwarzwald. Als hätte man eine Seite aus einem Reiseführer ausgeschnitten und hierhin geklebt“. Die Figuren in Jochen Veits Roman sind sich des oft verklärten Bildes ihrer Heimat bewusst. Ein neuer Schwarzwaldkrimi, gleich weitergedacht als deutsche TV-Produktion, Hauptabendprogramm? Nicht so im Fall von „Mein Bruder mein Herz“.

Von einer unauslöschlichen Vergangenheit

Stephan kehrt nach drei Jahren Abwesenheit zurück nach Hause. Zuhause bedeutet ein abgeschiedenes kleines Dorf mitten im Schwarzwald, die Häuser liegen verstreut und großteils verlassen da. Vor drei Jahren sind seine Eltern verschwunden, nur sein 13 Jahre jüngerer Bruder, Benno, ist zurückgeblieben.

Cover "Mein Bruder mein Herz" Jochen Veit

Arche

„Mein Bruder mein Herz“ von Jochen Veit erscheint im Verlag Arche.

„Verschwinden, das war mir nicht fremd, eine Vorstellung, mit der ich, und wie ich dachte, jeder, bisweilen liebäugelte. Die Vorstellung einer sanften Bewegung, die zu einem Ende führt. Und es war immer eine tröstende Vorstellung für mich gewesen, dass unsere Eltern ein Teil dieser Bewegung gewesen waren, dass sie kein gewaltsames Ende gefunden hatten, dass sie nicht mit ansehen mussten, wie die Welt, die sie geliebt hatten, verrottete“.

So weit, so seltsam.

Wie man etwas später erfährt, kehrt Stephan wegen eines Anrufs zurück: Alfred, ein alter Familienfreund, bittet Stephan flehentlich, nachhause zu kommen. Er habe Angst vor Benno. Der hätte sich in den letzten Monaten in eine erschreckende Richtung verändert. Wörter wie „Verrat“, „Mord“, „Mitschuld“ fallen.

Und tatsächlich. Alles ist seltsam, dunkel, geheimnisvoll, dort oben, zwischen den Tannen, der Sicht auf die Berggipfeln der Alpen, vor allem im Haus, das sich an den Fels schmiegt und wie eine Art eigener Organismus den Gezeiten trotzt. Man geht in das Haus hinein „wie in eine Höhle“ - ein Versteck, das keinen Schutz bietet.

Stephan versucht, seinen Unwillen gegenüber seiner eigenen Vergangenheit zu überwinden; und damit vor allem die eigenen Vorwürfe abzuschütteln, Benno damals zurückgelassen zu haben. Währenddessen geschehen unerklärliche Dinge. Ständig steht sein jüngerer Bruder plötzlich hinter Stephan, um von einer Sekunde auf die andere wieder zu verschwinden. Sein Gesicht taucht im Fenster auf. Er schwingt Reden über die Verdammnis, über Gerechtigkeit:

„Ich bin wild zur Raserei, ich weiß. Aber was ich hier gelernt habe, ist, dass Gelassenheit die vielleicht stärkste Waffe ist. (...) Und so bist du einfach in deiner kleinen großen Stadt geblieben und hast versucht, meine Gelassenheit zu begreifen, und mit jedem Schritt, den du auf meine Gelassenheit zugegangen bist, ist dein Verdacht ein bisschen stärker, dein Verdacht und auch deine Angst.“

Zwischen Realität und Fiebertraum

Existenzielle Ängste steigen in Stephan auf. Nicht nur wegen der offenbar unmittelbaren Bedrohung, vielmehr wegen immer noch offener Fragen. Danach, was mit seinen Eltern wirklich passiert ist, was es mit dem Keller des verlassenen Nachbarhauses auf sich hat. Wer oder was die seltsame, staksende Gestalt am Waldrand ist, wer die Gänse zerfleischt hat.

Jochen Veit

Vera Thielen

Über den Autor

Jochen Veit, 1992 geboren, lebt heute in Köln und studierte Philosophie und Komparatistik in Mainz und Wien.

2016 war er Stipendiat der Jürgen-Ponto-Stiftung in Edenkoben, im November 2017 Finalist beim Literaturförderpreis der Stadt Mainz. Er nahm 2018 am Literaturkurs in Klagenfurt teil. Mehrere seiner Texte erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. in „Krachkultur“ und „Still“.

„Mein Bruder mein Herz" ist Jochen Veits Debütroman“.

Viele Romane sind als „atemlos“ bezeichnet worden. Dieser ist es tatsächlich. Die fiebrige Lesegeschwindigkeit passt sich der Geschichte an: Stephan ist schwer krank. Er hustet Blut, fällt mehrere Male in Ohnmacht. Er träumt, halluziniert.

„Die alten schwarzen Balken über meinem Kopf. Die Maserung des Holzes, die Astlöcher. Vor meinen Augen tanzt alles. Während sie tränen vor Angst, starrte ich weiter an die Decke, vielleicht konnte ich einen Halt finden, wenn ich mich auf die Details konzentrierte. Schreiende Gesichter pressten sich aus dem Holz heraus. Astlöcher wurden Augen, die Jahreslinien Münder und Nasen, die in Wellen über mich hinwegfluteten.“

Je weiter sich die Geschichte fortentwickelt, desto weniger Einfluss hat Stephan auf die Ereignisse. Und desto mehr driftet auch die Erzählweise des Romans vom Naturalistischen am Anfang ins Surreale, Abstrakte ab. In Stephans Kopf stauen sich Fieber und wirre Gedanken, bis schließlich alles los- und er zusammenbricht.

Der Teufel im Detail

Das Gefühl, das man während des Lesens spürt, lässt sich sehr gut anhand eines Bildes erklären, das in besagtem Haus im Schwarzwald hängt. Stephan beobachtet es gemeinsam mit Alfred, dem erwähnten, alten Familienfreund.

Es ist das Bild „Der Winter“ des italienischen Spätrenaissance-Malers Guiseppe Arcimboldo (das im Original im Wiener Kunsthistorischen Museum zu sehen ist). Arcimboldo hat für seine Jahreszeitenserie die sogenannten „Kompositköpfe“ gemalt - jeder der vier ist aus Pflanzen und Pflanzenteilen, die für die jeweilige Jahreszeit charakteristisch sind, zusammengesetzt.

Und auch, wenn die Idee dazu wie eine unterhaltsame Spielerei klingt, haftet ihr etwas Schauerliches an. Auf den ersten Blick sieht man ganz deutlich ein menschlichen Kopf - auf den zweiten Blick ist es plötzlich keiner mehr.

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