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Sitzende Fahrgäste in Straßenbahn

Johannes Zinner / Wiener Linien

Marc Carnal

Taktiken zu Eroberung des begehrten Solo-Sitzplatzes

Frei-Absinth, Fake-Presseaussendungen oder Pantomime: Mit diesen Methoden bekommst du immer den allseits begehrten Solo-Sitzplatz in den Wiener Niederflur-Straßenbahnen.

Eine Kolumne von Marc Carnal

In den Niederflur-Straßenbahnen der Wiener Linien gibt es verschiedene Sitzplätze: Einerseits gut zugängliche Einzelplätze mit XL-Beinfreiheit, die laut Piktogrammen gebrechlichen, schwangeren, behinderten oder Kinder mitzerrenden Passagieren vorbehalten sind oder, wie es in den Durchsagen heißt, Menschen, die “Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger” brauchen.

Für alle anderen Fahrgäste gibt es Sitz-Zweierreihen. Hinter diesen Doppelsitzen gibt es darüber hinaus einen Einzelplatz, der sich von den anderen Einzelsitzen unterscheidet, weil dieser nicht dezidiert für Menschen gedacht ist, die “ihn notwendiger brauchen”. Man kann ihn sich also reinsten Gewissens krallen und muss dort keine Sitznachbarn befürchten.

Dieser Einzelplatz ist sehr begehrt. “Sehr begehrt” ist eine horrende Untertreibung! Die meisten Fahrgäste sind sowas von geil drauf, dass sie beim Einsteigen mit Schaum vorm Mund die Konkurrenz brutal aus dem Weg rammen, um ihn zu ergattern. Ich konnte beim Kampf um den Solo-Sitzplatz bereits atemberaubenden Ellenbogeneinsatz beobachten und würde mich nicht wundern, wenn es dabei auch schon zu schweren Verletzungen und Morden gekommen ist.

Allzu gerissen geht die Wiener Bevölkerung beim Sitzplatz-Kampf jedenfalls nicht vor. Der agilste oder dreisteste Fahrgast erobert ihn meistens, die anderen schauen und schnauben dann sehr böse und zwängen sich beleidigt auf einen Doppelsitz. Dabei gibt es doch viel elegantere Methoden als einfach nur schnell hinzuhechten!

Womöglich schneide ich mir ins eigene Fleisch, wenn ich an dieser Stelle meine jahrelang erprobten Geheimtipps verrate, um an den begehrten Platz zu kommen. Andererseits befördern die Wiener Linien täglich rund 2,6 Millionen Fahrgäste. Diesen Text wird dagegen eher keine 2,6 Millionen Leser finden. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, bezweifle aber sogar, dass ihn 260.000 Menschen lesen. Im Worst Case sind es sogar nur 26.000, die auf mein Clickbaiting reinfallen. Dann würde ein einziges Prozent aller Fahrgäste meine Tipps kennen. Diesem exklusiven Zirkel kann ich meine Tricks zur Eroberung des Solo-Sitzplatzes ruhig verraten:

  • Einen Sticker mit den vier Bedürftigkeits-Piktogrammen produzieren lassen und eine Krücke kaufen. Vor dem Einsteigen den Sticker heimlich von außen auf die Scheibe direkt neben dem begehrten Einzelsitz kleben. Dann auf die Krücke gestützt einsteigen und den Sitzplatz-Inhaber mit tadelndem Blick auf die Piktogramme verjagen.
Füße neben Krücke in Straßenbahn-Türe

Johannes Zinner / Wiener Linien

  • Die Mailadresse polizei-wien-offiziell@gmx.at einrichten und folgende Presseaussendung verschicken:

Sehr geehrte Journalistinnen und Journalisten,
Achtung Achtung! Derzeit ist ein irrer Massenmörder auf freiem Fuß! Er ist sehr groß, sehr dick und sehr hässlich! Besondere Kennzeichen: Er hat ein Hämatom in Form des Mödlinger Stadtwappens am Gaumen, eine massive Heidelbeer-Unverträglichkeit sowie panische Angst vor Sitznachbarn aller Art. Bitte warnen Sie die Bevölkerung vor diesem Schwein!!! LG Polizei Wien

Zeitungen, TV-Sender und Teletext werden sogleich über den gefährlichen Irren berichten. Bei den Medienkonsumenten bleiben natürlich die besonderen Kennzeichen hängen. Nachdem der Massenmörder panische Angst vor Sitznachbarn hat, setzen sich alle in der Straßenbahn auf einen Doppelsitz, weil sie sich dort sicher fühlen. Die Einzelsitze dürften alle frei bleiben. Setzt man sich auf einen solchen, wird man jedoch nicht für den Massenmörder gehalten, weil man schlauerweise ein Tegerl mit Heidelbeeren mithat. ;-)

  • Sollte der Sitz bereits besetzt sein, den Inhaber fragen: “Entschuldigung, aber Sie haben nicht zufällig meinen schwer inkontinenten Vater gesehen, der eben noch seelenruhig auf diesem Platz gesessen ist?”
  • Steigt man an der ersten Haltestelle in die Straßenbahn, bei den Wartenden mit Flyern eine Freibier-Aktion in einer Brauerei bewerben, die aber (wichtig!) an einer anderen Linie liegt. Die meisten wollen sich das gratis Besäufnis nicht entgehen lassen und machen sich begeistert auf den Weg. Dann in Ruhe den Einzelsitz krallen.
  • Alkoholische Alternative: Bei der ersten Haltestelle eine Absinth-Verkostung abhalten. Begeistert werden sich die Schluckspechte das Hochprozentige in ihre Rachen schütten. Fährt die Straßenbahn ein, sind die Konkurrenten bereits so betrunken, dass sie doppelt sehen und den Solo-Sitzplatz gar nicht mehr als solchen erkennen können.
  • Beim Einsteigen so tun, als würde man in der Türe gegen eine Glasscheibe oder ein durchsichtiges Kraftfeld prallen. Mehrmals dagegen laufen und sich nach jedem Versuch mit schmerzverzerrtem Blick die Stirn reiben. Die anderen Fahrgäste werden auf die gelungene Pantomime reinfallen und rasch zu einer anderen Türe gehen, weil sie nicht gegen das Glas beziehungsweise gegen das Kraftfeld kleschen wollen. Wenn die Konkurrenten weg sind, rasch einsteigen und es sich am Einzelsitz bequem machen.
  • Tiny Houses sind die Wohnform der Zukunft! In den pulsierenden Metropolen zeigen progressive Millennials bereits heute, wie man Londoner Quadratmeterpreisen, westlichem Turbo-Materialismus und Ressourcenverschwendung gleichzeitig den Kampf ansagt: Durch winzig kleine Häuschen! Darin vereinen die Wohn-Pioniere dank multifunktionalen Möbelstücken und Ökostrom-betriebenen XXS-Geräten auf nur fünf Quadratmetern Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad, Terrasse, Garage, Hobbykeller, Lobby und Drohnen-Landeplatz. Warum also nicht die Wohntrends von morgen mit den Bedürfnissen von heute verbinden und einfach auf dem Straßenbahn-Einzelsitz LEBEN? Wer nie mehr aufsteht, kann den Sitzplatz auch nicht verlieren! Morgens einfach ganz bequem das MacBook aufklappen und sich entspannt von der Werbeindustrie ausbeuten lassen, während die gestressten Kollektivvertrags-Opfer rings um einen ihre Frühstücksbrote im Stehen mampfen müssen. Am Abend Fruchtquetschis und Bionade aus dem Minikühlschrank ziehen, den Kuschel-Overall unter dem Sitz hervorholen und entspannt Netflix oder Infoscreen schauen. Und nachts heimlich in die Remise mitfahren und in wohliger Dunkelheit friedlich einschlafen.
Straßenbahnen in Remise

Stefan Joham / Wiener Linien

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