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APA/AFP/Sergei GAPON

Mein Name ist Nobody: Selenskyj ist der neue Präsident der Ukraine

Der Fernsehkomiker Wolodymyr Selenskyj hat die Sensation geschafft: Er wird der sechste Präsident der Ukraine. Wer ist der Mann, der seine politischen Konkurrenten narrte und am Ende alle besiegte?

Von Simone Brunner

Kiew/Wien - Als erstes machte er ein Selfie. Am Wahlabend, als nach den ersten Exit Polls klar wurde, dass ihm die große Sensation, der Sieg bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen, gelungen war. Bevor buntes Konfetti auf den Fernsehkomiker Wolodymyr Selenskyj nieder regnete, zückte ein Kollege sein Handy, um sich von der Bühne aus mit der Journalistenmenge im Hintergrund zu fotografieren. „Ich liebe mein Land, meine Frau, meinen Hund“, schmetterte zuvor die Titelmelodie seiner Fernsehserie aus den Boxen.

Wo hört die Fiktion auf, wo beginnt die Realität?

Das war in diesem Wahlkampf nicht immer genau zu sagen. Die meisten Ukrainer kennen den 41-jährigen Schauspieler Selenskyj als Held der Fernsehserie „Sluga Naroda“ („Diener des Volkes“). Der ganz normale Geschichtslehrer von nebenan, der nach der Scheidung wieder bei seinen Eltern einzieht und mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Unbedarft und naiv, aber ehrlich und vor allem fern der korrupten Seilschaften der Kiewer Politik. Als er über Nacht zum Präsidenten gewählt wird, räumt er mit der Misswirtschaft im Staate auf. Mit den korrupten Politikern, die ihn zu ihrer Marionette machen wollen, macht er wiederum kurzen Prozess.

Screenshot aus der TV-Serie "Sluga naroda" ("Diener des Volkes")

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Selenskyj als Schauspieler in der TV-Serie „Sluga Naroda“, links im Bild

Es ist ein Staatsmann, von dem viele Ukrainer träumen: Endlich Tabula Rasa mit dem Filz aus Wirtschaft, Politik und Oligarchen. Und Selenskyj soll diesen ukrainischen Traum nun leben. Was vor knapp vier Monaten, als er seine Kandidatur am Neujahrsabend bekanntgab, etwas mehr als ein Gag war und einen spannenden Wahlkampf versprach, ist Wirklichkeit geworden. Selenskyj hat gestern in der Stichwahl mit 73 Prozent den Amtsinhaber Petro Poroschenko (24 Prozent) klar besiegt. Wie sein Alter Ego in der Serie, wird er jetzt Präsident. Obwohl jeder Vergleich hinkt, ist es in etwa so, als wäre Kevin Spacey alias Frank Underwood auf dem Höhepunkt der Popularität der Netflix-Serie „House of Cards“ zum Präsidenten der USA gewählt worden.

Verrückter Wahlkampf

Während die anderen Politiker ihr übliches Programm abspulten, tourte Selenskyj mit seinem Kabarett durch die Lande und riss Witze über seine politischen Gegner. Dem Vorwurf, nur ein „Clown“ zu sein, konterte er mit einer „Clown-Challenge“ in den sozialen Medien. Nach einem medialen Schlagabtausch mit seinem Gegner in der Stichwahl, Petro Poroschenko, stellten sich beide Kandidaten einem Rededuell im Kiewer Olympiastadion. Nicht, ohne sich zuvor einem Alkohol- und Drogentest zu unterziehen, da „das Land einen gesunden Präsidenten braucht“, wie Selenskyj sagte. „Alle haben den Verstand verloren“, titelte die ukrainische Wochenzeitung „Nowoja Wremja“ über diesen Wahlkampf.

TV-Serie und Partei

1978 in eine jüdische Familie in der südukrainischen Stadt Krywyj Rih geboren, studierte Selenskyj zuerst Jus, bevor er seine Leidenschaft für die Bühne entdeckte. Mit Freunden gründete er in den Neunziger Jahren das Kabarettprogramm „Kwartal 95“, in dem er bis heute spielt. 2015 landete er seinen bisher größten Erfolg: als Hauptdarsteller in der Polit-Satire „Diener des Volkes“, das zur erfolgreichsten TV-Produktion der Ukraine wurde. Erst am Neujahrsabend, vor knapp vier Monaten, gab der zweifache Familienvater seine Kandidatur bekannt. Doch schon 2017 hatte Selenskyj eine Partei registrieren lassen. Ihre Name? „Sluga Naroda“, „Diener des Volkes“, wie die TV-Serie, die auch bei den Parlamentswahlen im Herbst antreten wird.

Enttäuschung und Kalkül

Fünf Jahre nach den Maidan-Protesten ist die Enttäuschung in der Ukraine groß, da sich viele Forderungen der Aktivisten – mehr Rechtsstaat, weniger Korruption und Macht der Oligarchen – nicht erfüllt haben und der Krieg in der Ostukraine weitergeht. Zwar hatte Poroschenko die Armee gestärkt, eine unabhängige ukrainische Orthodoxe Kirche forciert und die Visumsfreiheit mit der EU durchgebracht. Doch am Ende stimmten die meisten Ukrainer für ein Risiko statt für den Status Quo. Dass der Komiker bei seinen Versprechen so vage geblieben ist und vielmehr versucht hat, die Wut auf Poroschenko für sich zu nutzen, war da wohl Kalkül.

Wahlabend: viele Fotografen. Ein Mann steht mit dem Rücken zu uns, auf seinem T-Shirt ist das Gesicht Selenskis zu sehen.

APA/AFP/GENYA SAVILOV

Am Wahlabend

Zwar stand der Schauspieler zuletzt ständig in der Öffentlichkeit – sei es mit seinen Kabarettauftritten oder der TV-Serie, deren neue Staffel wenige Tage vor dem ersten Wahlgang anlief -, doch Journalistenfragen stellte er sich nur in Ausnahmefällen. Das hat zu einer Scheinöffentlichkeit geführt: Viele Scherze, wenig Substanz. Nur so viel wurde klar: dass sich Selenskyj für mehr direkte Demokratie, eine Fortsetzung des West-Kurses in Richtung EU und NATO sowie für ein Gesetz einsetzen wolle, um Präsidenten in Zukunft leichter ihres Amtes zu entheben. Das kündigte er in einem Videointerview mit dem ukrainischen Nachrichtenportal RBK an. Das Interview hatte er aber auch nur gegeben, weil der Journalist bei einem Tischtennisturnier Selenskyj geschlagen hatte – und ein Gespräch der Preis dafür war.

Hauptsache nicht Poroschenko

Als „Liberalen durch und durch“ beschreibt ihn Oleksandr Danyljuk, sowohl in wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Fragen. „Er ist unsere einzige Hoffnung auf Veränderung.“ Danyljuk war zuletzt Finanzminister, bis er sich im Vorjahr mit der Regierung überwarf – und heute Selenskyj unterstützt. „Dass die Ukraine so abhängig von den Fernsehsendern der Oligarchen ist, schränkt die Möglichkeiten für neue Gesichter ein, bekannt zu werden“, sagt er. Aber gerade die Tatsache, dass sich Selenskyj bereits einen Namen als Entertainer gemacht habe, könnte ihm die nötige Unabhängigkeit sichern, die einem völligen Außenseiter fehle, sagt er. Ob Selenskyj am Ende so sein werde wie der TV-Held in der Serie? „Es geht nicht darum, ob er nun so ist wie Holoborodko“, sagt Danyljuk, „sondern darum, dass er kein alter Politiker und eben nicht wie Poroschenko ist.“

Plakat: Selenski, wie er in seiner TV-Serie den Präsidenten spielt. Hinter seinem Rücken sieht der lachende Oligarch Kolomoiski hervor. Das Bild stammt vom Februar 2019

APA/AFP/YURI DYACHYSHYN

Foto vom Februar dieses Jahres. Hinter Selenskyj schaut der Oligarch Kolomojsjy hervor.

Doch der Plot vom „Diener des Volkes“ hat auch einen Schönheitsfehler: Selenskyjs Verhältnis zum Oligarchen Ihor Kolomojsjy. So ist es gerade der Sender des mächtigen Oligarchen, 1+1, auf dem der Komiker seine steile Fernsehkarriere machte und der ihm auffällig viel Sendezeit eingeräumt hatte. Kolomojskyj hatte sich zuletzt mit Poroschenko überworfen und könnte versuchen, sich wieder ins Spiel zu bringen. Das alte Spiel der Macht, nur mit vertauschten Rollen? Doch der Wunsch nach Veränderung scheint größer gewesen zu sein, als jede Skepsis über Selenskyjs Hintermänner und Financiers.

Heterogene Wählerschaft

Jetzt wird Selenskyj an seinen Taten zu messen sein. Leicht wird das freilich nicht – allein schon deswegen, weil seine Wählerschaft so heterogen ist, wie eine Analyse des Kiewer Rasumkow-Zentrum zeigt. Demnach wollen 52 Prozent der Selenskyj-Wähler, dass die ukrainische Sprache gefördert wird, 41 Prozent von ihnen sind für eine Gleichberechtigung des Russischen und Ukrainischen. 47 Prozent unterstützen eine Marktwirtschaft, 41 Prozent wollen eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft. Eine harte Politik gegenüber Russland unterstützen 55 Prozent, eine sanfte Linie wiederum 32 Prozent seiner Wähler.

Das liest sich wie die Quadratur des Kreises. Die Enttäuschung ist da wohl schon vorprogrammiert. Entscheidend wird wohl sein, welche Gruppe am Ende am meisten Einfluss auf den politischen Nobody haben wird: seine Jugendfreunde aus dem Kabarett, die Reformer oder doch die gewieften Anwälte aus dem Oligarchenumfeld? Wie schnell die Sterne am politischen Firmament der Ukraine verglühen, davon können andere Politiker – vom glücklosen Wiktor Juschtschenko nach der Orangen Revolution bis zum gestern abgewählten Petro Poroschenko – ein Lied singen. „Ich werde alles tun, was ich kann“, sagte Selenskyj in einer Talkshow. „Ich werde kluge Leute mitbringen. Und wenn ich scheitere, dann werde ich das Amt verlassen.“

Wahlabend: Selenskis winkt.

APA/AFP/Genya SAVILOV

Wie die Selenskyj-Saga auch ausgehen mag – ein Drehbuch steht immerhin schon fest. Die erste Show der Komiker-Truppe „Kwartal-95“, die für ihre schrille Polit-Satire bekannt ist, wird am 5. Mai stattfinden. Ohne Selenskyj, wird ein Sprecher zitiert. „Das Leben geht weiter. Wenn wir unser Programm einstellen, wer soll denn dann über Selenskyj Witze machen? Aber ich denke, dass er uns ohnehin wenige Gründe liefern wird, sich über ihn lustig zu machen.“

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