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Biker auf der Park Lane

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Schuld an allem sind die Rolling Stones

Die Londoner Jugend vergießt Klebstoff und Theaterblut für die Rettung der Welt, Mods & Rockers stauen indessen auf der Park Lane für die Ehre schießwütiger Soldaten und im Rückspiegel tauchen Nordirlands mörderische Troubles auf.

Von Robert Rotifer

Inzwischen ist er also vorbei, der falsche Frieden der Osterpause, und sie können wieder munter weitertun mit ihrem Brexit-Blödsinn.

Kurzes Update: Nigel Farages neue Brexit Party führt in den Umfragen für die hier nun doch stattfindenden Europa-Wahlen, während weder Tories noch Labour wahlkämpfen, weil es angeblich undemokratisch sei zu wählen – und ich denke nicht einmal dran, zu versuchen das zu erklären.

Schon vorher, am 2. Mai, stehen aber auch Kommunalwahlen an, und in deren Vorfeld wird von körperlichen Attacken auf wahlwerbende Kandidaten sowohl der Tories als auch Labours berichtet.

Nein, gar keine Ahnung, wo diese Aggression herkommt, aber Farage hat beim Gründungstreffen seiner Partei getönt „Wir werden unsere Parlamentarier*innen das Fürchten lehren“, und die Medien gaben ihm dafür die größtmögliche Plattform. Farages Brandrede war einen Tag lang die Hauptnachricht der BBC...

Nur zwischendurch durfte in den britischen politischen Diskurs auch die echte Welt eindringen, oder besser gesagt deren Untergang, aber um das zu erzwingen, brauchte es viel Menschen und Klebstoff.

Die ganze letzte Woche brachte die Extinction Rebellion mit ihren Protesten gegen die Tatenlosigkeit im Angesicht des Klimawandels große Teile des Londoner Zentrums zum Stillstand, indem Demonstrant*innen sich an den Asphalt des Oxford Circus und diverser Brücken klebten.

Ein paar leimten sich sogar an Jeremy Corbyns Gartenmauer fest, andere wieder vergossen 200 Liter Theaterblut vor dem Eingang zur Downing Street.

All das ganz ohne meine eigene Teilnahme, ich klebe nämlich selbst am Sessel hinter meinem provinziellen Schreibtisch (wenn ich hier nicht blogge, arbeite ich natürlich, wo denkt ihr hin).

Vorgestern also traf sich die für eine Rede am Parliament Square und einen Besuch des Unterhauses per Zug nach London gereiste Greta Thunberg mit Jeremy Corbyn, während Theresa May sich wieder einmal mit sicherem Instinkt dafür entschied, die junge Klima-Aktivistin links liegenzulassen – und stattdessen Zeit fand, Donald Trump im Namen der Königin auf einen Staatsbesuch einzuladen. So setzt man Signale.

Extinction Rebellion am Londoner Oxford Circus

Greg Hall

Extinction Rebellion am Oxford Circus

Also, wie gesagt, ich brauch nicht groß zu reden, ich war ja selber nicht dabei (Foto hat ein alter Freund gemacht). Aber immerhin wurde ich bei meinem letzten Ausflug ins Londoner Zentrum vor zwei Wochen Zeuge einer bizarren Manifestation des nicht minder symbolträchtigen, graugetönten Gegenteils dieses jugendlich bunten Aufbegehrens.

Es begann mit der Fehlentscheidung, durch den Hyde Park Richtung Marble Arch zu schlendern. Genau wie auf der ersten Seite von George Orwells „1984“ ratterte oben am Himmel ein Helikopter der Gedankenpolizei wie eine bluebottle (Schmeißfliege, ich hab aber die deutsche Übersetzung nie gelesen) und überblickte das verdächtige Treiben da unten. Dann wurden es zwei, dann gleich drei.

Hubschrauber am Himmel über dem Hyde Park

Robert Rotifer

„Ja können die sich keine Drohnen leisten, wie jeder andere ordentliche Überwachungsstaat auch?“, schnaubte ich, während ich zwischen Gitterzäunen durch den Park flanierte. Es ist nämlich gerade die Jahreszeit der jährlichen Wiederinstandsetzung des Rasens. Nachdem der Hyde Park, so wie die meisten öffentlichen Londoner Grünflächen die warme Zeit des Jahres über an die Konzertindustrie vermietet wird, verwandelt er sich im Frühling drauf jedes Mal in eine Art begrünten Gefängnishof.

Absperrung am Hyde Park

Robert Rotifer

Und schuld sind natürlich die Rolling Stones, die vor einem halben Jahrhundert hier aufspielten, zum Gedenken an Brian Jones Hunderte Schmetterlinge sterben ließen und mit dem ganzen Park-Beschallungs-Unfug anfingen, dachte ich mir noch, da sah ich das Getümmel am von den Hotels der Park Lane verstellten Horizont.

Ein Verkehrsstau.
Ein Zweiräder-Verkehrsstau.
Ein Motorradkorso.
Aber mit Rollern dazu.
Und mit Fahnen, manche davon Union Jacks und englische Georgskreuze, andere weinrot mit eigenartigen Adlerschwingen drauf.

Das musste ich mir natürlich näher ansehen.

Biker auf der Park Lane

Robert Rotifer

Stauen für Soldat F

Das Wappen stellte sich als jenes des Parachute Regiment der britischen Armee heraus. Darunter der Slogan „I stand with soldier F“.

Fahne: I stand with soldier F

Robert Rotifer

Die Auspuffe röhrten, während Motorräder und Roller, den Handzeichen von Polizisten folgend, Kreise rund um die Verkehrsinseln zogen. Der Großteil des Demonstrationszugs aber stand still und knatterte bloß im Stand. Ich sah mir die Leute und ihre Gefährte an, eine erstaunliche Mischung aus alten Rockern, alten Mods oder Scooter Boys und subkulturell unzuordenbaren Motorradenthusiasten.

Mod und Rockers

Robert Rotifer

Frauen waren auch dabei, aber ausschließlich auf den Rücksitzen. Ich sah auf Lederjacken und Jeans-Gilets gestickte Insignien von Motorradclubs, aber auch einen glatzigen Typen, auf dessen Bomberjacke die Aufschrift „Armed Forces Scooter Club“ zu lesen war.

Mann mit Bomberjacke vom Armed Forces Scooter Club

Robert Rotifer

Mit meinem Mikro in der Hand ging ich auf einen der Männer zu und fragte ihn, worum es denn hier ginge. „Um den Soldaten F“, sagte er. Er stellte sich als „Mark“ vor. „Haben Sie je vom Bloody Sunday gehört? Während der Vorfälle damals gab es offenbar ein bisschen Kreuzfeuer, ein paar Zivilisten wurden getötet, Soldat F ist des Mordes an zwei Zivilisten angeklagt. Aber so wie wir das sehen, wurde die IRA begnadigt. Also wenn auf der einen Seite die Leute begnadigt werden und auf der anderen die Regierung auf einen Soldaten losgeht, der in einem Kriegsgebiet Befehle befolgt hat, als junger Kerl, warum soll der gerichtlich verfolgt werden? Sollte er nicht die gleichen Rechte erhalten wie die bekannten Terroristen der IRA?“

Und wurde diese Demo von Biker-Clubs organisiert?

„Nein, von einem Ex-Soldaten, der Motorrad fährt. Er hat es auf Facebook erwähnt, also haben ein paar Leute gesagt: Wir sollten unsere Solidarität zeigen. Das wuchs an, und innerhalb von zwei Wochen waren 12.000 Leute dabei. Das sind Biker aus allen möglichen Vereinen. Es gibt viele Ex-Soldaten, die Motorradclubs beitreten, weil es da dieselbe Art von Zusammenhalt gibt wie beim Militär. Normalerweise fahren ein Sportmotorrad und eine Harley nicht zusammen aus. Aber wenn es um etwas geht, wofür wir alle Leidenschaft empfinden, stehen wir zusammen.“

Ich dankte ihm und verzog mich erst einmal zum Luftholen zurück auf den Gehsteig. Natürlich hatte ich schon vom Soldaten F gehört.

Aber in einem ganz anderen Kontext, nämlich der enttäuschten Verbitterung, als diesen März nach 47 Jahren endlich gegen ihn Anklage erhoben wurde.

Es war die Verbitterung der Hinterbliebenen der Opfer jenes berüchtigten Massakers namens Bloody Sunday 1972 in Derry, Nordirland. Die Enttäuschung darüber, dass nur Soldat F angeklagt wird, obwohl an jenem Tag zahlreiche britische Soldaten nicht bloß zwei, sondern 13 Zivilisten erschossen und 15 weitere durch Schüsse verletzten (einen davon mit späterer Todesfolge).

Immerhin wurde zur Feststellung dieser Tatsachen eine offizielle Untersuchungskommission eingerichtet. Deren Abschlussbericht kam nach 12 Jahren Recherche zum Ergebnis, dass keiner der am Bloody Sunday Erschossenen für die Soldaten eine Bedrohung dargestellt hatte.

Wie jenes „Saville Inquiry“ eindeutig ermittelt hat, war die Abgabe tödlicher Schüsse entgegen in britischen Medien beharrlich gestreuter Legenden durch nichts zu rechtfertigen.

Die Einsetzung dieser Kommission war übrigens eine der entscheidenden Bedingungen für das vor 21 Jahren zwischen Irland und Großbritannien geschlossene Karfreitagabkommen, das Nordirland seinen fragilen Frieden brachte.

Genau jenes Abkommen also, dessen Einhaltung der Brexit jetzt durch die Einführung einer irisch-nordirischen Zollgrenze so leichtsinnig gefährdet.

Biker Marks verzerrte Darstellung war in diesem Zusammenhang nicht etwa eine verirrte Nischenmeinung. Sie machte vielmehr sichtbar, wie weit sich der nationale britische Konsens durch den Brexit nach Rechtsaußen verschoben hat.

Noch 2010 hatte sich David Cameron als Premierminister im Namen des Vereinigten Königreichs bei den Opfern des Bloody-Sunday-Massakers entschuldigt. Diesen März dagegen erklärte die Ministerin für Nordirland Karen Bradley im Unterhaus die Tötung von Menschen in Nordirland durch Polizei und Militär sei kein Verbrechen gewesen. Exekutive und Soldaten hätten vielmehr „ihre Pflicht auf eine würdige und angemessene Art erfüllt“.

Sie nahm diese Äußerungen zwar tags darauf wieder zurück, Verteidigungsminister Gavin Williamson hat aber seither versichert, der britische Staat werde den angeklagten Soldaten F in seiner Verteidigung mit allen Mitteln unterstützen.

Ganz im Gegensatz dazu, was Biker Mark glaubt, ist es also keineswegs die Regierung, sondern der Rechtsstaat, der gegen den Widerstand der Regierung den Auftrag des Karfreitagabkommens erfüllt.

Lyra McKee und die Ceasefire Babies

An diesem vergangenen Karfreitag wiederum erwachte das Land zur Nachricht vom Tod einer jungen Journalistin namens Lyra McKee.
Gestern wurde sie unter Beisein der irischen und britischen Regierungschef*innen, sowie Vertreter*innen der katholischen und protestantischen Fraktionen in Nordirland zu Grabe getragen.

Auch McKee wurde als wehrlose Zivilistin in den Straßen von Derry erschossen, in ihrem Fall von Mitgliedern der sogenannten New IRA, einer Neuauflage der katholischen nordirischen Untergrundarmee, die zu Zeiten der drei Jahrzehnte anhaltenden, sogenannten Troubles einen erbitterten Kampf gegen die protestantischen Loyalisten führte, während paramilitärische Gruppen beider Seiten mit ihren mafiösen Strukturen die nordirische Zivilgesellschaft tyrannisierten.

McKee starb aus Versehen. Die Kugeln, die sie trafen, hatten einem Bekennerschreiben der New IRA zufolge offenbar der Polizei gegolten.

In ihrem berühmten Letter to my 14 year old self beschrieb Lyra McKee berührend und humorvoll ihr schwieriges Coming-out als Lesbe in einer katholisch geprägten Umgebung.

Als die Provisional IRA, als deren Nachfolgerin sich die New IRA darstellt, 1994 jenen Waffenstillstand ausrief, der den Beginn eines ernsthaften Friedensprozesses ermöglichte, war die auf einer von Belfast einst gefährlichsten Straßen aufwachsende Lyra noch ein kleines Kind. Sie bezeichnete sich deshalb als Teil der Generation der „Ceasefire Babies“ und schrieb unter anderem darüber, wie das weitergegebene Trauma des Bürgerkriegs so viele aus ihrer Sozialisation in den Selbstmord trieb.

Alte Jugendkulturen, versöhnt für die Soldatenehre

Aber im Kontext dieses Blogs hier repräsentiert McKees tragisch früher Tod auch noch was Anderes, nämlich ein Besorgnis erregendes Gegenstück zu meinem kleinen Erlebnis vor zwei Wochen am Rande des Hyde Park.

In den letzten drei Jahren wurde viel darüber geschrieben, dass der Brexit den Frieden in Nordirland gefährden könne, falls es zu einer harten Grenze kommt.

Der Mord an Lyra McKee, aber auch das kaum verhohlene anti-irische Sentiment einer unbedeutenden Londoner Biker-Demo zeigen, dass diese Gefahr nicht bloß eine drohende Möglichkeit, sondern bereits real vorhanden ist.

Jene Brexiteers, die das Problem der irisch-nordirischen Grenze allen Warnungen zum Trotz stets bagatellisieren, sind dafür jetzt schon mitverantwortlich – und vergessen wir nicht, dass Theresa May seit 2017 nur mit Unterstützung der protestantischen DUP regiert und damit de facto die im Karfreitagabkommen festgeschriebene Verpflichtung der britischen Regierung zur Neutralität verletzt.

All das klang mit im Dröhnen der Motoren am Hyde Park. Aber dazu kam noch einiges mehr.
Für mich persönlich nicht weniger als die endgültige Zerstörung des Nachlasses der, wie ich dachte, bei allen seitherigen Verirrungen letztlich doch progressiven oder wenigstens irgendwie diffus widerständischen Kraft jugendlicher Subkulturen zu Beginn des Pop-Zeitalters.

Zugegeben, dass Motorrad-Rocker politisch tendenziell ziemlich reaktionär sind, ist jetzt nicht gerade eine Neuigkeit.

Und was die gealterten Mods angeht, war mir auch nicht entgangen, dass ein erschreckend großer, ja wohl mehrheitlich repräsentativer Teil derer, die einst vor 55 Jahren dem freudigen Internationalismus italienischer Zweiradtechnologie und Schneiderkunst, afro-amerikanischer bzw. afrokaribischer Musik und französischer Coiffure frönten, sich seither von der national-nostalgischen Erzählung des rückwärtsgewandten Brexit-Geists hat verführen lassen.

Logisch, dass diese Leute sich in der Idealisierung ihrer verlorenen Jugend nicht lange mit semantischen Unterscheidungen zwischen der Entfremdung des Union Jack als Pop-Art-inspirierte Fahnenentweihung und bloßer jingoistischer Fahnenwedelei aufhalten.

Und ja, ihr, die ihr jetzt den Bildschirm anprustet und sagt: "Geh bitte, Diedrich Diederichsens zu Tode zitierter „The Kids are not alright"-Text hat das alles buchstäblich schon vor 27 Jahren erklärt...“, I hear you!

Und doch, doch, doch bleibt es immer noch schockierend, einst aufregend erschienene Lebensentwürfe in der allertiefsten Unehre uncoolster chauvinistischer Bigotterie sterben gehen zu sehen.

Wie hatten sie einander doch bekämpft, die Rocker und die Mods, und was bringt sie heute im Alter zum Waffenstillstand?

Wofür lässt man nun alte Rivalitäten hinter sich und bläst in versöhnter Eintracht die Abgase seiner fetischisierten Vehikel in die Luft, während ein paar Gassen weiter die Jugend gegen das Ende der Welt demonstriert und ein rosa Segelboot durch das West End fahren lässt?

Richtig: für das Recht der britischen Armee, so wie früher einmal, straffrei irische Zivilisten abzuknallen.

Die alten Mods und die alten Rocker, was für erbärmliche Deppen.

Übrigens: Die Londoner Extinction Rebellion hält immer noch an. Heute haben sich Aktivist*innen an der Londoner Stock Exchange festgeleimt.

Bisher wurden bei den Protesten über 1.000 Demonstrant*innen festgenommen; mehr als sie in ihren 36 Dienstjahren je erlebt habe, wie die Chefin der Metropolitan Police Cressida Dick am Wochenende stolz erklärte.

Bei der Rebellion Without A Cause der Mods und der Rocker damals am Pfingstwochenende in Brighton 1964 waren es 75 gewesen.

Luschen.

Biker allein

Robert Rotifer

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