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Crossing Europe

Europäisches Kino in Linz

Donnerstagabend wurde das Crossing Europe Filmfestival in Linz eröffnet. „SAF“, „Systemsprenger“, „Dreissig“ und „Das melancholische Mädchen“ sind einige der Highlights, die bereits zu sehen waren.

Von Anna Katharina Laggner

So warmherzig, so sonnig und frühlingsfrisch der Empfang in Linz auch sein mag, so unbarmherzig sind die Realitäten im Kino. Man möchte sagen, die Realitäten Europas, aber so stimmt das nicht, es sind immer individuelle Geschichten, die erzählt werden, das System, das man beschuldigen könne, das gibt es nicht, sagt der junge türkische Regisseur Ali Vatansever im Publikumsgespräch nach seinem Wettbewerbsbeitrag „SAF“. „SAF“ ist der erste Wettbewerbsfilm, den ich sehe, und gleich ein Highlight.

Mann auf Baustelle

Crossing Europe

„SAF“

„SAF“ handelt von einem Mann, den die Kamera in der ersten Hälfte des Films durchgehend begleitet, und von einer Frau, die die Kamera in der zweiten Hälfte des Films durchgehend begleitet. Die beiden sind ein Paar, sie leben in Istanbul, einer Stadt, in der ganze slum-artig entstandene Viertel dem Erdboden gleichgemacht und Wohnblöcke mit 30 Stockwerken hochgezogen werden. Über das junge Paar, diese zwei Individuen, verhandelt Regisseur und Drehbuchautor Ali Vatansever große Themen wie Arbeitsmigration und politische Flucht, Unterdrückung und kapitalistisches Profitstreben. Keines der genannten Worte fällt in diesem grandiosen Spielfilm, der statt auf die Musik auf eine atemberaubende Sound-Gestaltung setzt, die „SAF“ zu einer körperlichen Erfahrung macht. Auf der narrativen Ebene ist der Film eine psychologische Zustandsbeschreibung zweier Menschen, die in die Mühlsteine enormer Erdumwälzungen geraten sind oder anders gesagt: zur falschen Zeit am falschen Bagger sitzen.

Eröffnet wurde das Festival Donnerstagabend unter anderem mit dem deutschen Debütspielfilm „Systemsprenger“, der bereits bei der Berlinale im Wettbewerb gelaufen ist. Als Systemsprenger werden – informell – Kinder genannt, die sämtliche Stationen des sozialpädagogischen Systems durchlaufen und nirgendwo Halt finden oder ankommen.

Ein Mädchen steht auf einem Feld

kineo Film/Weydemann Bros.

„Systemsprenger“

Nora Fingscheidt erzählt von Benni, einem fürwahr schrecklichen Mädchen, dem es gelingt, Panzerglas zu zerschlagen und das eine Gefahr für andere Kinder darstellt. In diesem Film wird gebrüllt, getobt und es fließt Blut. Obwohl man Angst vor ihr (und ihrem nächsten Ausbruch) hat, ist man von Anfang an bei dem Mädchen. Nora Fingscheidt sagt, sie sei bereits in ihren Recherchen von der schier unendlichen Kraft dieser sogenannten Systemsprenger beeindruckt gewesen, von der Energie, sich immer und immer wieder gegen Systeme aufzulehnen, die einem selbst nicht entsprechen, nicht das geben, was man braucht. Und das wäre? Natürlich, eh klar: Liebe.

Obwohl das Crossing Europe Filmfestival den ganzen Kontinent umschließt, bin ich bei zwei weiteren deutschen Debütspielfilmen hängen geblieben, in denen es um scheinbar individuelle Krisen geht.

„Alles, was man bis jetzt im Leben entschieden hat, sollte stimmen, und ab da geht es los im Leben“, sagt Simona Kostova, Drehbuchautorin und Regisseurin von „Dreissig“. 24 Stunden in Neukölln in Berlin, sechs Menschen um die 30, gebeutelt von Belanglosigkeit, Daseinsfrust, Existenzzweifeln, Langeweile und Hoffnung. Aber nein: In „Dreissig“ geht es nicht um die Luxusprobleme von Berliner Hipstern, die sich in ihrem Weltschmerz gefallen, hier geht es um ein Leiden, das entsteht, wenn die Versprechen nicht eingelöst wurden.

Sechs Menschen um die Dreißig in Berlin

Crossing Europe

„Dreissig“

„Das Leben davor war die Vorbereitung für das Leben“, sagt Simona Kostova, „so wird das zumindest verkauft. In den 20ern, in diesen sogenannten wilden Jahren bereitet man sich vor für etwas. Und dann, so sollte es sein, kommt dieses Etwas. Wenn das nicht kommt, entsteht ein großes Problem.“ Dieses Etwas, die „Überaufgabe“, wie sie die gebürtige Bulgarin Simona Kostova nennt, kommt aber in den meisten Leben nicht. Nämlich nie. „Dreißig“ ist somit nur scheinbar ein Porträt der sogenannten Millennials, tatsächlich stehen die sechs jungen Menschen hier stellvertretend für alle vom Ausbleiben der großen Aufgabe Enttäuschten.

Ja, es ist auch ein Befindlichkeitskino, man muss es zugeben. Aber was sollte es anderes sein, wenn gefühlt die halbe westliche Welt unter Depressionen und Panikattacken leidet? „Das melancholische Mädchen“ der Schriftstellerin Susanne Heinrich liefert eine bitterkomische Analyse dieser gefühlt halben westlichen Welt. Der Film begreift Depression nicht als individuelles, sondern als ein durch strukturelle Probleme hervorgerufenes Leiden, ein, wie es die Autorin und Regisseurin ausdrückt, “Leiden der Gesellschaft an sich selbst“.

Crossing Europe
25.-30. April 2019

Aufgeteilt in Episoden, die Namen tragen wie „Feminismus zu verkaufen“ und gespickt mit Floskeln wie „Es gibt nichts, was so erdet wie ein Baby“ kreist „Das melancholische Mädchen“ um eine junge, schöne, opake Frau, deren Körper und deren Seele als Projektionsfläche für das neoliberale System inklusive Konsumzwang und Rückzug ins Private herhalten müssen. „Why aren‘t you happy“ ist der internationale Filmtitel und er drückt die Ironie aus, mit der dieser Film gesegnet ist.

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