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Vernon Subutex Schauspielhaus

Matthias Heschl

Virginie Despentes’ „Vernon Subutex“ im Wiener Schauspielhaus

Mit seiner Inszenierung „Das Leben des Vernon Subutex 1+2“ nach der Romanvorlage von Virginie Despentes hält Regisseur und Intendant Tomas Schweigen nicht nur seiner Hauptfigur, sondern vor allem dem Publikum den Spiegel vor. Ein Abend, an dem Schauspiel und Realität tatsächlich verschwimmen.

Von Lisa Schneider

Letztes Wochenende sind die Gelbwesten in Frankreich wieder auf die Straßen gegangen, um gemeinsam mit Angehörigen linker Parteien und Gewerkschaftsmitgliedern gegen die neuesten Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu protestieren.

Rückblickend wirkt die Vernon Subutex-Romantrilogie der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes wie eine Art Prophezeiung, deren letzter Band ist bereits 2015 erschienen. Es sind drei Romane über die alternde Hauptfigur Vernon Subutex, die langsam alles - seinen Plattenladen, seine Wohnung, sein Geld, seine Freunde - verliert. Sie sind aber vielmehr noch ein Sittenbild der französischen Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer wird.

Eine Pariser-, eine Wiener-, eine Weltgeschichte

Die Polarisierung der Gesellschaft ist kein französisches, sondern ein weltweites Phänomen. Der somit fast schon universelle Anspruch von Virginie Despentes’ Geschichte könnte demnach nicht aktueller sein, so empfindet auch Regisseur und Intendant des Wiener Schauspielhauses, Tomas Schweigen: „Das Besondere an dem Roman ist natürlich schon diese ganze französische Geschichte, die politische Konstellation, die beschrieben wird - noch lange bevor die Gelbwesten aufgetreten sind. Bei den Figuren hat man das Gefühl, da keimt schon alles so. Ich glaube, dass sich Freunde verlieren, aber auch die Polarisierung der Gesellschaft auch hierzulande erleben lässt.

Das Figurenarsenal in Virginie Despentes’ Romanen ist beinahe unüberschaubar, Tomas Schweigen lockert die Erzählung für das Theater anhand des Gebrauchs verschiedener Medien, etwa eingespielter Videos, auf. Und er reduziert diese Fülle an Handlungsträger*innen auf eine Handvoll Darsteller*innen.

Clara Liepsch als obdachlose Olga

Matthias Heschl

Clara Liepsch als obdachlose Olga

Trotzige, ungut gealterte Frauen, opportunistische Filmemacher, junge Nazis. So unterschiedlich sie sind, alle haben eines gemeinsam, erzählt Schauspielerin Clara Liepsch, die 23-jährige Deutsche, die mit diesem Stück ihren Einstand am Wiener Schauspielhaus gibt: „Virginie Despentes hat einmal gesagt, dass die junge Generation, die 20-Jährigen, wo ich auch reinfalle, nicht mehr gegen den Chef rebellieren wollen, sondern genauso sein wollen wir der Chef. Sie meint damit, dass wir nicht mehr anders sein wollen, sondern auch einen BMW fahren wollen, die dicke Kohle haben wollen, bei Louis Vuitton einkaufen wollen. Das finde ich wichtig und bezeichnend. Das versuche ich auch in meine Figuren hineinzulegen, in die noch sehr junge Celeste. Es zählt halt nur, wer das dickste Auto hat, das ist Status heute - und das war mal anders früher. Das ist auch die Nostalgie, in der die Figuren schweben, dass es eben mal anders war.

Nichts ist mehr wie früher, und Vernon Subutex erfährt es schmerzlich am eigenen Leib. Zerzaust in Hemd und Haar führt er uns durch die vierstündige Theaterinszenierung, und, obwohl Protagonist, spricht er vor allem anfangs relativ wenig. So ist es eben: das Leben passiert ihm, nicht er wirkt über sein Dasein. Ein Zyniker, ein Arschloch. Ein Frauenverehrer, ein Opportunist, einer, der nicht mehr weiß, wo sein Platz in der Welt ist. Die Freunde verstreut, mal mehr, mal weniger habsüchtig, gierig, brutal oder egomanisch.

Vernon Subutex im Schauspielhaus

Matthias Heschl

Und er ist der beste und hassenswerteste unter ihnen allen: Steffen Link spielt einen narzisstischen, selbstgerechten, reichen, jungen Dandy.

Und andererseits sind es die Freunde von Vernon Subutex, die die Erzählung, und die sein Leben zusammenhalten. Sie finden ihn, als er in der Obdachlosigkeit, im Park, verschwindet. Sie finden alle wieder zusammen, immerhin ist Vernon ihr kleinster gemeinsamer Nenner.

Liebe, Zugehörigkeitsgefühl, alles rutscht ihm durch die Finger. Wie schnell es geht, wie schnell man ganz unten angekommen ist, wird nicht nur anhand seiner Geschichte erfahrbar gemacht, sondern auf eine überraschend ausgedachte, sehr unmittelbare Art.

Patrick Müller ist für die Kulinarik des Abends zuständig. Bekannt aus der TV Kochesendung Silent Cooking, bespielt er als Teil des Usus kreativ Kollektivs das Theaterbuffett im Schauspielhaus unter ‚Usus im Schauspielhaus’ seit April.

Klassentrennung

Schon im Vorfeld des Stücks, beim Kartenkauf, müssen sich die Besucher*innen entscheiden, ob sie um einen kleinen Aufpreis das „Essen mit Vernon Subutex auf der Straße“, oder ein „gehobenes Dinner“ in der Pause zwischen den zwei Teilen einnehmen wollen. Die, die es sich leisten können, werden mit einem Aufkleber an der Kleidung markiert und vor besagter Pause wird in reich und arm sortiert.

Schließt man sich, wie ich, den armen Genossen rund um Vernon an, wandert man mit ihm, gekrümmt, in zerknuddeltem Mantel und die Haarsträhnen im Gesicht, durch die nächtlichen Straßen des 9. Wiener Gemeindebezirks. Endstation ist ein heruntergekommener Kiosk, wo Suppe ausgeschenkt wird. Armenspeisung, wie man sie aus etwa aus dem Neunerhaus kennt. Vernon rezitiert. Er fällt nicht aus der Rolle. Er fragt, wie es uns geht. Er schreit in die Nacht. Es ist ein unbehagliches Gefühl. Menschen, die nicht zur Theatergruppe gehören, die nur ihren letzten Einkauf gemacht haben oder den Hund spazieren führen, gehen vorbei und erkennen nicht sofort, um was es hier geht. Eine Performance? Die Wirklichkeit?

Auch Clara Liepsch spielt eine Obdachlose, Olga. „Es ist total krass, wie die Leute reagieren. Einige sehen, dass du ein Kostum trägst, andere nehmen dich tatsächlich als Penner, als Obdachlosen wahr. Es ist fast schon verrückt, wie sich hier Realität und Schauspiel verschränkt. Aber genau das will der Abend auch, dass der Besucher, die Besucherin sich berufen fühlt, sich zu positionieren und sich zu den Geschehnissen zu verhalten.

Vernon Subutex Schauspielhaus

Matthias Heschl

Jesse Inman spielt Vernon Subutex, auf eine anfangs liebevolle, fast bedachte, später kräftige, weinende und zu Tränen rührende Weise.

Betrübt treten wir den Heimweg ins Schauspielhaus an, nach dem schnellen, einfachen Imbiss. Durch die Fenster sehen wir drinnen die „Reichen“ sitzen, an einer langen, prunkvoll gedeckten Tafel, sie sind wohl gerade beim zweiten Tag angelangt, die Stimmung ist gut und der Wein ist süß. Sauer hingegen ist das Gefühl, ausgeschlossen zu sein.

Versuchte Wiedervereinung

Mit seltsamem Gefühl wohnt man dann dem zweiten Teil der Inszenierung bei. Man spürt mehr. Man versteht Vernon Subutex, ob er einem nun sympathisch ist oder nicht.

Tomas Schweigens Inszenierung deckt die ersten beiden Romanteile ab - auf den dritten Teil wird hingewiesen, angedeutet, was wohl noch passieren wird. Es ist gut, und es tut vor allem gut, dass das Stück endet, wie es endet, in der im zweiten Romanteil vorgegebenen Utopie: Vernon Subutex hat sich hochgearbeitet zu einer Art Guru, der in Vororten von Paris sogenannte „Convergences“ abhält, friedliche Raves, die Droge heißt Musik. Die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen verbünden sich. Vernon wird vom Versager zum Überheld, zum Anführer, zum zeitlosen Kapitän der Verlorenen. Und das Publikum ist angehalten, sich ebenfalls wieder zu vereinen.

Nach diesem letzten, sektenähnlichen Gemeinschafsmoment verlässt man das Schauspielhaus. Die Gedanken rasseln. Selten war die Realität dem Theater, oder das Theater der Realität, so nahe.

„Das Leben des Vernon Subutex 1+2“ ist noch bis 11. Mai im Wiener Schauspielhaus zu sehen. Während der Wiener Festwochen gibt es eine kleine Pause - im Herbst wird das Stück aber wiederaufgenommen.

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