Hallo Familie, hallo Psychothriller! Das Crossing Europe geht mit Überraschungen ins Finale
Von Maria Motter
„Springen! Rutschen! Schneller!“ Im Trailer des 16. Crossing Europe Filmfestivals üben Passagiere den Ausstieg aus einem defekten Flugzeug in einer Halle. Eine Frau mit Mickey-Maus-Stimme gibt die Anweisungen. Die Regisseurin und Filmakademiestudentin Leni Gruber hat den Trailer gestaltet und gibt damit eine kurze Sequenz eines zukünftigen Projekts preis. Jetzt habe er den Trailer echt schon oft gesehen, sagt ein Besucher. Für Festivalbesucher*innen mit Flugangst ist der Trailer eine Herausforderung. Doch dass das Crossing Europe Festival hohe Ansprüche an sein Publikum stellt, ist hier allen bewusst.
„One Day“ ist ein furioser Psychothriller
Katastrophenszenarien taten sich viele auf in den vergangenen Festivaltagen. Die größte Überraschung ist dabei ein Spielfilm aus Ungarn: „Egy Nap“ („One Day“) ist das Langfilmdebüt der ungarischen Regisseurin Zsófia Szilágyi und hatte bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere. Es gibt wenig, das bedrohlicher ist als ein Betrug, der angekündigt wird. Das Smartphone in der Hand könnte den Live-Ticker zum Ende liefern, aber es rührt sich nicht. Französische RegisseurInnen haben Familiendramen perfektioniert und besetzen sie stets mit Stars ihres Kinos. Die ungarische Regisseurin Zsófia Szilágyi hebt den beliebten Unterhaltungsstoff der Literatur seit dem 19. Jahrhundert, den Ehebruch, auf ein atemraubend furioses Level.
Die Gewinner*innen-Filme!
Montagabend fand die Preisverleihung statt:
Bester Spielm des Crossing Europe 2019 ist „The Man who surprised everyone“. Beste Dokumentation ist Thomas Heises Dreistünder „Heimat ist ein Raum aus Zeit“. Sebastian Brameshubers „Bewegungen eines nahen Bergs“ gewann im Local Competition-Wettbewerb. In der neuen Jugendschiene gewann Darko Štantes Publikumsliebling „Consequences“.
Sie zieht dem jüngsten ihrer Kinder die Schuhe an – man bangt. Das Gesicht des rothaarigen und -bärtigen, korpulenten Ehemanns bekommt weiche, fast kindlich-hilflose Züge, als Anna ihn direkt auf Gabi anspricht. Gabi hätte sich in ihn verliebt, aber das sei vorbei. Nacherzählt klingt das wie ein schlechter Film. Doch Regisseurin Zsófia Szilágyi hat kein vorhersehbares Reißbrett-Herz-Schmerz-Drama gemacht. Als in der Mensa ein Kollege Annas eine Wahrheit ausspricht, beginnt ein Wettlauf gegen Dinge, die Anna nicht bestimmen kann. Jede Sekunde von „One Day“ schaut man wie gebannt zu: Die erzählten 36 Stunden im Leben der Ehefrau, dreifachen Mama, Sprachenlehrerin Anna sind ein Psychothriller.
Fantastisch spielt Zsófia Szamosi diese Anna. Zum Donauwalzer, der als Warteschleifenmusik der Hotline des Kreditinstituts aus dem Handy tönt, räumt sie die Wohnung auf, bleibt aber in jeder Sekunde unberechenbar. Doch so lange sie nur weitermacht, will man glauben, so lange sie alle Levels des Alltags in der Zeit absolviert, wird dieses private Universum weiter existieren.
Films Boutique
Es zählt zu den schönsten Kinomomenten, wenn fremde Menschen über dieselben Sätze in Dialogen lachen. In welchem anderen Film hat schon ein vierjähriges Mädchen erzählt, dass sie von einem Mann geträumt hat, der erhängt worden ist, um zu Fleisch verarbeitet zu werden, aber der zu dick ist, um vom Strang genommen zu werden? Der Horror in „One Day“ ist alltäglich.
Premiere für „Atomlos durch die Nacht“
Am heutigen Dienstagabend, dem Abschlusstag des Festivals in Linz, hat mit „Atomlos durch die Macht“ von Markus Kaiser-Mühlecker ein österreichischer Dokumentarfilm Premiere, der vom Verhindern möglicher Katastrophen handelt: „Österreich ist das einzige Land mit einem funktionsfähigen, aufgrund der Volksabstimmung nie ans Netz gegangenen Atomkraftwerk“, erinnert der Festivalkatalog.
KM Film
Von Putin zu Sylvana Simons - der Trend zur Wahlkampfbeobachtung hält an
Bei den Dokumentarfilmen setzt sich der Trend der Beobachtung von Wahlkämpfen fort: Ob „Sylvana, Demon or Diva“ über die schwarze niederländische Polit-Quereinsteigerin Sylvana Simons, „Hungary 2018“, „Putin’s Witnesses“ oder „Avevo un sogno“ („I had a dream“) - das Doppelporträt der italienischen Freundinnen und Politikerinnen Manuela Ghizzoni und Daniela Depietri, das so ausschaut, wie in den 90er-Jahren Dokus gedreht wurden, doch mitreißend den Kampf der beiden Frauen um Gleichberechtigung zeigt.
Deckert Distribution
Gemeinsam ist den Filmen, dass hier Versuche unternommen werden, die Inszenierung der Politiker*innen mit einer eigenen Inszenierung zumindest aufzuzeigen, wenn nicht zu brechen. Mal gelingt das mehr, mal weniger. Die Regisseurin Ingeborg Jansen sagt in Linz, sie habe sich beim Drehen mehrmals sehr zurückhalten müssen, ihrer Protagonistin Sylvana Simons nicht mitzuteilen, dass diese gerade einen Fehler mache. Leider bleibt es beim Gespräch im OK über die Filme, die angekündigte kontroversielle Diskussion über das Filmen von Politiker*innen bleibt aus.
Einer, der Auseinandersetzungen nicht scheut, ist Vitaly Mansky. Als Dokumentarfilmchef eines staatlichen Senders hatte Mansky zu Beginn von Putins erster Amtszeit praktisch uneingeschränkten Zugang zu Putin und dessen innerem Zirkel.
Via TV erfahren die Russ*innen von großer Veränderung in ihrem Land. Am 31. Dezember 1999 bittet Boris Jelzin die Russ*innen in einer Fernsehansprache um Vergebung, dass sich nicht alle Hoffnungen erfüllt haben, und tritt vorzeitig als russischer Präsident zurück. Wenige Stunden später übernimmt Vladimir Putin die Macht.
Mit der Kamera verfolgte Mansky während des historischen Abschieds-TV-Auftritts Jelzins Familie bis ins Badezimmer. Seine Frau wird wütend: Putin sei die Antithese zu Jelzin, sagt sie, sie werden noch einmal denken, dass sie in der Ära Jelzin in einer Utopie gelebt hätten.
Vitali Manski
In den folgenden 90 Minuten kompiliert Mansky Filmmaterial, das er ursprünglich zum Zweck der Wahlwerbung für Putin gedreht hatte.
„Unser wichtigstes Ziel ist es, die Menschen zu überzeugen, uns alles abzunehmen, was wir sagen und tun", sagt Putin wenige Tage nach der Machtübernahme. Das prächtige, historische Material beinhaltet auch eine längere Sequenz mit Gorbatschow.
Es wäre vermessen, zu behaupten, der hervorragende Dokumentarist liefere mit „Putin’s Witnesses“ einen Aufguss seiner bisherigen Auseinandersetzung mit dem aktuellen russischen Machthaber. Er analysiert das Material abermals, hakt mit der Stimme aus dem Off ein. Das ZDF hat den Dokumentarfilm coproduziert. Bleibt zu hoffen, dass er gesendet wird. Das Programm des Crossing Europe Festivals ist 2019 erneut sehr exklusiv: Viele der hier gezeigten Filme laufen sonst nur auf anderen internationalen Filmfestivals.
Publiziert am 30.04.2019