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Tara Westover

Paul Stuart

Trotz Homeschooling nach Cambridge: Tara erzählt in „Befreit“ ihr unglaubliche Geschichte

Tara Westover wurde in Iowa nach mormonischem Glauben erzogen, ohne klassische Schulbildung oder Arztbesuche. Später hat sie in Cambridge und Harvard studiert. In ihrem Buch „Befreit“ schreibt sie über pervertierte familiäre Loyalität, mentale Kontrolle und das, was Bildung für sie bedeutet.

Von Lisa Schneider

Im Seminarraum einer amerikanischen Universität, Vorlesung Geschichte: Eine junge, neue Studentin hebt die Hand. „Dieses Wort kenne ich nicht“, sagt sie, „Was bedeutet es?“

Stille im Raum. Das Wort, nach dem sie fragt, lautet Holocaust.

„Der Staat weiß nicht von uns“

Die junge Studentin heißt Tara Westover. Sie wächst in Iowa auf, abgeschieden am Fuß eines Berges. Sie ist das jüngste von sieben Kindern und wird nach mormonischem Glauben erzogen. Der beinhaltet, zumindest nach den radikal-paranoiden Ansichten ihres Vaters, dass seine Kinder nicht zur Schule oder zum Arzt gehen.

Dad hat Angst, dass die Regierung uns dazu zwingt, aber das kann sie nicht, weil sie gar nichts von uns weiß. Vier der sieben Kinder meiner Eltern haben keine Geburtsurkunde. Wir haben keine Patientenakte, weil wir zu Hause geboren wurden und nie einen Arzt oder eine Schwester zu Gesicht bekommen haben. Auch Schulakten haben wir nicht, weil wir nie einen Fuß in ein Klassenzimmer gesetzt haben.“

Die schulische Bildung findet zuhause statt: Lesen lernen, etwas Mathematik, Bibel- und Kräuterkunde. Letztere vor allem, weil ihre Mutter als Hebamme und Kräuterkundlerin arbeitet. Sie braut zuhause das Notwendigste zusammen, falls eines ihrer Kinder krank oder - was häufiger vorkommt - verletzt wird.

Tara Westovers Vater nämlich arbeitet auf einem Schrottplatz, und mit ihm seine Söhne, später auch Tara selbst. Mehr als einmal geht es dort lebensgefährlich zu: die Kinder erleiden in regelmäßigen Abständen Schnittwunden, Verbrennungen und Schlimmeres. Zuhause wird alles mit Ölen oder Tinkturen behandelt - auch die schweren Verletzungen ihres Vaters, der direkt neben einem Auto stand, als es explodierte. Er kam nur knapp mit dem Leben davon.

Vom Hausunterricht nach Cambridge und Harvard

Als Tara Westover 16 Jahre alt ist beginnt sie, auf Anraten ihres größeren Bruders Tyler, sich zuhause selbst weiterzubilden. Auch Tyler hat sich unter anderem Algebra selbst beigebracht, um den Aufnahmetest für Hochschulen in den USA zu bestehen, ohne Abschluss einer High School.

Tara Westover schafft die Aufnahmeprüfung tatsächlich, wenn auch nur sehr knapp. Als 17-Jährige studiert sie zunächst an der mormonischen Brigham-Young-Universität. Dort ereignet sich auch die eingangs erwähnte Szene im Vorlesungssaal, in der sie nach der Bedeutung des Wortes Holocaust fragt. Beschämt verlässt sie die Vorlesung und sucht im Internet nach Antworten. In diesem Moment, erzählt Tara Westover, ist ihr erst bewusst geworden, wie groß ihre Unwissenheit tatsächlich ist.

Cover Buch "Befreit" Tara Westover

Kiepenheuer & Witsch

„Befreit“ von Tara Westover ist in der deutschen Übersetzung von Eike Schönfeld im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Trotz vieler ähnlicher Rückschläge erhält Tara Westover schließlich ein Stipendium für ein Studium in Cambridge, wo sie nach einem Gaststipendiat in Harvard auch promoviert.

Leugnung und mentale Kontrolle

Mit „Befreit“ hat Tara Westover ihre unglaubliche Geschichte niedergeschrieben. Sie einen „Bildungsroman“ zu nennen, würde aber der Komplexität des Erzählten nicht gerecht werden: In dem Buch geht nicht nur nur um fehlende schulische Bildung, sondern vielmehr um eine pervertierte Vorstellung von familiärer Loyalität, Glaubensmissbrauch, Unterdrückung und schließlich auch um mentale Gesundheit.

Die radikalen Ansichten ihres Vaters, denen sich ihre Mutter ohne Widerstreben gefügt hat, waren für lange Zeit die einzige Wahrheit, die sie gekannt hat: Wenn er im Zorn gedonnert hat, dass die Illuminaten die Kirche genauso wie das College unterwandert hätten; wenn er die Kinder täglich einen Rucksack mit dem Lebensnotwendigsten am Bett bereitstellen lässt; wenn er prophezeit, dass mit der Jahrtausendwende die Erde untergehen wird und nur sie überleben würden, weil sie Pfirsiche in tausende Gläser eingelegt und viele weitere Vorräte angeschafft hätten.

Mit der autoritären Erziehung geht Gewalt einher. Tara Westovers Vater hat seine Kinder nicht geschlagen, er hat sie anderen Gefahren ausgesetzt, der erwähnte Schrottplatz war eine davon. Im Nachhinein erzählt Tara Westover in vielen Interviews, dass er es nicht besser wusste, dass er seine Kinder nie in Gefahr bringen wollte, und wenn, dann „sei das Gottes Wille“ gewesen.

Es ist vor allem ihr Bruder Shawn, der sie physisch und psychisch missbraucht, der sie als Hure beschimpft, die nur anderen Männern gefallen wolle. Der ihren Kopf in die Toilette drückt, sie an den Haaren reißt, sie würgt und tritt. Ihre Mutter weiß von den Misshandlungen, leugnet sie aber. Ihr Vater glaubt ihr nicht. Daraus ergibt sich für Tara Westover ein Teufelskreis, in dem Erinnerung und Realität verschwimmt.

Das Problem waren meine Tagebücher. Ich wusste, dass meine Erinnerungen nicht bloß Erinnerungen waren, sondern dass ich sie auch aufgezeichnet hatte, dass sie schwarz auf weiß existierten. Das bedeutete, dass nicht nur meine Erinnerung fehlerhaft war. Die Täuschung lag tiefer, in meinem Kopf, der die Geschehnisse erfand, während sie noch geschahen, und dann die Fiktion aufschrieb.“

Während ihrer Zeit an der Universität erleidet Tara Westover mehrere mentale Zusammenbrüche. Vor allem deshalb, weil sie sich für verrückt hält und fieberhaft nach dem eigenen Verschulden sucht.

Was bedeutet Bildung?

Heute hat Tara Westover nur mehr mit einem Teil ihrer Familie Kontakt, vor allem mit ihrem Bruder Tyler, dem auch das Buch gewidmet ist. Mit ihrer Mutter telefoniert sie ab und zu, aber ein gewisser Abstand ist notwendig, um ihr eigenes Leben führen zu können: „I felt like I needed to come to terms with the decision I made, to let go of my family. I think when I was writing the book the big questions to me where: What does it mean to belong to a family? What obligations are there, and are there limits to them? What do you do when you want to be loyal to your family, but you feel you’re not loyal to yourself?

„Befreit“ - die deutsche Übersetzung des Originaltitels „Education“ - scheint auf den ersten Blick nicht so richtig zu sein, wie sie schlussendlich ist: In Tara Westovers Buch geht es nur in zweiter Linie um die schulische Bildung, das Wissen um Baudelaire, Napoleon, oder eben Adolf Hitler.

In erster Linie hat besagtes Wissen, aber auch der Prozess des Lernens und vor allem des Diskutierens an der Universität Tara Westover zum ersten Mal erlaubt, selbstständig Perspektiven und vor allem Meinungen zu entwickeln. Und somit ihre eigene Geschichte zu erzählen, statt sie von jemand anderem erzählen zu lassen.

„Dieses neue Ichsein könnte man vieles nennen. Umwandlung. Metamorphose. Falschheit. Verrat. Ich nenne es Bildung.“

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