FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Muse live in Graz

Maria Motter

Muse und die Maschinenmenschen

Muse eroberten Mittwochabend die Grazer Stadthalle, die dritte Station in Europa auf ihrer „Simulation Theory World Tour“. Ja, das kann und muss man so formulieren. Immersion, baby!

Von Maria Motter

Was schon alles als „immersives Erlebnis“ angekündigt wurde, daran mag man sich lieber nicht erinnern. Doch der „Simulation Theory World Tour“ von Muse ist der immersive Charakter eingeschrieben. Du kippst in dieses Aufgebot an Licht, animierten Videos, Tänzern und Musik wie in den Smartphone-Screen im Alltag – das Dargebotene absorbiert die Aufmerksamkeit wie die Grazer Stadthalle das Publikum, als das Saallicht ausgeht und Muse den dritten Tour-Abend in Europa eröffnen.

Hymnisch ist das Liedgut des britischen Trios. Pompös die Inszenierung. Nahezu jeder Song wird von einem Animationsfilm begleitet und insgesamt ergibt sich eine lose Geschichte, die das Publikum in eine hochtechnologisierte Welt führt. Dort biegen sich Kabel wie eine Wirbelsäule, der Mensch tritt nur noch in Form von Skeletten in Ganzkörperscannern in Erscheinung und Maschinenmenschen werden zum Gegenspieler. Zu Beginn schon schweben PerformerInnen an Seilen über der Bühne, später formieren sie sich mit Leuchtstäben. Es gibt nicht wenige, die über Muse sagen, die Band produziere immerzu denselben Song. Es gibt nicht wenige, die Muse seit vielen Jahren begleiten. Fad jedenfalls wird Mittwochabend niemandem.

In den Animationen, die der Videospielkultur huldigen, rast man durch futuristische Städte. Ein Inferno tut sich auf – dann Switch in der Dynamik: Muse brechen den dystopischen Trip, indem Matthew Bellamy das Publikum zum Sing-a-long von „Dig Down“ einlädt. Am Bühnensteg treffen sich die drei Musiker, sind damit näher am Publikum und in einem Lichtkranz. Binnen Sekunden stellt sich eine Atmosphäre à la Unplugged Session ein. Darauf folgt „Madness“ und Muse schreiben den Struggle dieser Erlösergeschichte fort, die sich in den Lyrics mehrfach wiederholt. Liebe und Licht werden angestrebt.

Zwei Stunden wird alles aufgeboten, was geht

Das würde auch in Fußballstadien passen und schon ist Mitklatschen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Sänger Bellamy läuft einmal an der ersten Reihe vorbei und streckt seine Hand zum Abklatschen aus. Daraufhin Konfetti und Partyschlangen, „Time is Running Out“ - aber keine Sorge: Wer sich die Setlist vom Open-Air am Sonntag in Prag zuvor angeschaut hatte, weiß, dass Muse mit Sorgfalt ein Zwei-Stunden-Programm zusammengestellt haben, in dem sie große Hits gekonnt zwischen den neuen Songs platzieren. Songs wie „Pressure“ brauchen noch ein bisschen. Noch ist unklar, ob sie in einigen Jahren wie „Hysteria“ gefeiert werden.

Die perfekte Inszenierung antiker Motive

Das alles ist derart perfekt inszeniert, dass man es eher als vollkommen konsequent empfindet, wenn Bellamy einen silbernen Totenschädel wie eine Trophäe hält und diesen mit „Take a bow“ ansingt. Es sind uralte Motive, die Muse hier bedienen. Es geht um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit und die Sehnsucht nach Maschinenmenschen, die Muse durchaus kritisch kommentieren.

Muse live in Graz

Maria Motter

Dass der technologische Mensch Gefahr laufe, sein Leben abzuschalten, davor warnte der nordamerikanische Soziologe, Forscher und Philosoph Lewis Mumford in „Mythos der Maschine“ bereits in den 1960er Jahren. Das Maschinenmenschen-Denken fasziniert den Menschen seit dem Mittelalter, im 18. Jahrhundert standen staunende Leute vor der Mechanischen Ente von Jacques de Vaucanson. Jetzt stehen einige tausend Konzertbesucher*innen - angeblich 14.500 - in der Grazer Stadthalle; „Death“ und „Destruction“ leuchten in Riesenlettern auf und die Animationen auf den Screens führen uns zurück in eine futuristisch anmutende Umgebung, die mehr als einen Besucher an den Film „Blade Runner“ (Erscheinungsjahr 1982) erinnert. Für das im Vorjahr erschienene, achte Studioalbum „Simulation Theory“ hatte sich Schlagzeuger Dom Howard ein Artwork gewünscht, das einem Filmposter gleiche. Umgesetzt hat es der britische Maler Kyle Lambert, der in Los Angeles für seine Illustrationen für Filmplakate bekannt wurde – von „Jurassic Park“ bis zum Intro der Serie „Stranger Things“.

Den 80er Jahren huldigen

Lambert wiederum huldigt den 80er Jahren und ist inspiriert von dem Designer Drew Struzan, der für die Plakate für „Star Wars“ wie „Blade Runner“ verantwortlich zeichnet. „A lot of advertising today is done by technology experts – the people who know Photoshop inside and out. But they don’t draw and they don’t understand the power of composition. I draw, I take photographs, I’ve spent my whole life drawing“, erzählt Lambert in einem Interview.

Nahezu jeder Song ist als Animationsfilm aufbereitet. Mittendrin Lasershow, darauf folgt der romantische Moment mit „Starlight“. Die Maschinenmenschen sind zurück:

“We are caged in simulations
Algorithms evolve
Push us aside and render us obsolete“

Kommando empfangen. Bellamy beugt sich vor und die Screens werden schwarz: Das Bild schwindet wie einst bei Röhrenfernsehern.

Muse live in Graz

Maria Motter

Eine Major-Label-Band in Zeiten der Streamingdienste

Es fällt schwer, sich Matthew Bellamy in einem Pub nebenan vorzustellen. Im Jahr 2000 saß der damals 21-Jährige mit seinen Kollegen auf einer Wiese im Backstage-Bereich des deutschen Bizarre Festivals, seine blau gefärbten Haare standen in alle Richtungen, doch schon damals war er kein Rock-Küken mehr. Sie haben sich ihren eigenen Epos erschaffen und dafür gebühre ihnen Anerkennung, wird ein Besucher konstatieren.

Dass die durchgetaktete Inszenierung keinen unguten Moment aufweist, liegt daran, dass Muse mit keiner einzigen Pose einen Personenkult anstreben. Als ein übermächtiger Cyborg - Totenschädel unter dem Helm, mehr Klaue als Hand - aus dem Screen geradezu in die Halle hineinzugreifen droht und die spitzen Finger nach Bellamy ausstreckt, wehrt der mit einer Armbewegung ab und die Gitarre fliegt ein paar Meter. „Die haben mehr als eine Gitarre“, zeigt sich ein Fan höchst zufrieden über das Finale. „Come ride with me / Through the veins of history“ - die nächsten Möglichkeiten nahe Österreich, die Theorie der Simulationen von Muse zu überprüfen, sind in Warschau und Prag im Juni.

mehr Musik:

Aktuell: