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Erykah Badu

Sergio Albert

Primavera Sound: Das Pop-Festival als temporäres Utopia

Kann ein Pop-Festival die Welt im Kleinen verbessern? Die Macher*innen des Primavera Sound in Barcelona haben es dieses Jahr versucht - und das Resultat gibt ihnen recht!

Von Stefan „Trishes“ Trischler

Am Tag der Anreise in Barcelona wird in Österreich die Ernennung der ersten Bundeskanzlerin bekannt gegeben. Das passt ganz gut, weil es zwar als Symbol schön ist, aber eigentlich auch schon längst normal sein sollte.

„The New Normal“ hat sich das Primavera Sound Festival für seine 19. Ausgabe als Slogan ausgesucht, um seine Bemühungen für die Nachhaltigkeit und ein musikalisch aber auch gender- und identitätspolitisch möglichst vielseitiges Programm zu beschreiben. Am merkbarsten schlug sich das im Line-Up nieder, das bis in die Headliner-Slots ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis schaffte. Diese Diversität setzte sich auch im Publikum fort, das merkbar aus vielen Teilen der Welt angereist war.

Nur bei einem Konzert war die Crowd von den Locals dominiert, aber es war auch die triumphale Rückkehr einer großen Tochter: Die in der Flamenco-Tradition verwurzelte Rosalía stammt aus den Vororten Barcelonas und hat spätestens mit ihrem letzten November veröffentlichten, elektronischeren Album „El Mal Querer“ Anspruch auf einen Platz im globalen Pop-Olymp angemeldet. Vor zwei Jahren hatte sie noch ein akustisches Flamenco-Sitzkonzert im Auditori gespielt, heuer lockte sie die gefühlt größte Crowd des ganzen 3-Tages-Festivals vor die Hauptbühne - und holte während ihres Konzertes auch James Blake für den gemeinsamen Song auf die Bühne.

Rosalía

Sergio Albert

Blake sollte dann wenig später auf der gegenüberliegenden großen Bühne für ein weiteres Highlight sorgen: Fast das ganze letzte Album und viele liebgewonnene Songs von den Platten davor gab der britische Musiker am Klavier mit Unterstützung von E-Drums, Gitarre und einem großen Modular-Synthesizer zum Besten. Die visuelle Inszenierung war reduziert, der Fokus lag klar auf der Musik, die dann trotz des unpersönlichen Settings berührte.

James Blake und Band

Eric Pamies

Das Primavera Sound stand dieses Jahr aber auch ganz im Zeichen der Rapperinnen: Legenden wie Gangsta Boo aus Memphis oder Vertreterinnen neuerer Generationen, von Rico Nasty bis Princess, von Tierra Whack bis Flohio lieferten einige der mitreißendsten Shows. Nicht auszudenken, was los gewesen wäre, wenn auch noch Cardi B gekommen wäre, wie ursprünglich geplant.

Rico Nasty

Dani Canto

Auch Erykah Badu, die anfangs ja als MC Apple bekannt gewesen war, ließ sich am Donnerstag Abend zu ein paar Freestyle-Raps hinreißen: Thematisch ging es um den einen Stern, den sie trotz des blendenden Bühnenlichts ausmachen konnte. Und auch sonst ging es bei der Show mehr um das spontane Zelebrieren von Musik und Interaktion mit den Menschen vor der Bühne als um das Verwalten von Hits. Derer hat Ms. Badu ja schon genug geschrieben und einige gab es auch zu hören, aber die Spiel- und Experimentierfreude war für einen Headliner-Act aufs Neue sehr erfrischend.

Vor, nach und während dieser großartigen Konzerte herrschte übrigens durchgehend extrem friedliche, positive Stimmung. Auch in kurzen Wartesituationen, etwa auf der schmalen Brücke zwischen den zwei Teilen des Geländes, wurde es nie hektisch, weder von Seiten der Securities, noch von Seiten der vielen, vielen Besucher*innen. Auch spätere Stunden und steigende Intoxikationsgrade ändern nichts an diesem respektvollen Miteinander. Innerhalb des abgeschlossenen Systems Pop-Festival ist eine bessere Welt also offensichtlich möglich - wenn auch nur für die, die sich den Eintritt leisten können.

Man hätte am Samstag Abend, nach den schönen und ruhigen Konzerten von Solange und James Blake also eigentlich beseelt und zufrieden nachhause gehen können. Wenn, ja wenn danach nicht JPEGMAFIA noch eine hochenergetische Rap-Punk-Show auf eine kleinere Bühne geschmettert hätte. Wie besessen wirbelte der in Los Angeles lebende Rapper und Produzent herum, schrie sich Songs wie „I Cannot Fucking Wait Until Morrissey Dies“ aus dem Leibe und riss seine „Peggy! Peggy!“ rufenden Fans zu wilden Moshpits hin.

JPEGMAFIA beim Stagediven

Sergio Albert

Fast ebenso turbulent ging es kurz danach auch bei Slowthai zu. „Nothing Great About Britain“ heißt das brilliante brandneue Album des Grime-MCs, der mit Vorliebe Geschichten von der falschen Seite der britischen Klassengesellschaft erzählt. Live kam das so energiegeladen daher, dass Slowthai nach wenigen Songs schon den Großteil des Gewandes und seinen Mageninhalt verloren hatte.

Nicht nur bei den zahlreichen Besucher*innen aus Little Britain kam die Nachricht an: „Ihr mögt zwar die letzten Tage auf einem geradezu utopischen Musikfestival gewesen sein, aber morgen oder spätestens übermorgen geht’s wieder in die echte Welt mit ihrem Brexit, dem Feschismus und der Homophobie zurück. Der Kampf geht weiter, es gibt noch viel zu tun!“

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